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Wer hatte sie denn bekloppt, das heißt, geschlagen?

      All das überstieg seinen Horizont als Junge und doch war die Angst, dass Nikolas nach Aplerbeck geschickt werden könnte, unaussprechlich groß. Seit der Rückkehr aus dem Kinderheim war er gar nicht mehr anzusprechen.

      Drei Tage später war Weihnachten. Das Fest entwickelte sich zum Drama. Die Goldmarie bemerkte zwar die Veränderung an Nikolas, hatte aber instinktiv sehr schnell begriffen, dass, wenn sie nicht allzu sehr darauf einging, sich ihr auch keine Unannehmlichkeiten in den Weg stellen würden. Sie behandelte ihn wie immer und wenn er nicht reagierte, so machte das auch nichts.

      Herrmann ließ sich nichts anmerken. Das Kind Nikolas habe wohl eine schlechte Phase, zumindest würde es ja nun essen und er, Herrmann, hatte seine eigenen Probleme.

      Anna war total überfordert. Nikolas war plötzlich zum Problemfall geworden: verschlossen, wortkarg, distanziert, in seiner Welt lebend und, wie sich die Verwandtschaft später gerne ausdrückte, »eigenbrötlerisch«.

      Wie alle Familien pflegten auch die Wildes Rituale zu Weihnachten. Die drei Weihnachtsfeiertage waren seit jeher festgelegt und unter den Verwandten aufgeteilt. Heiligabend bei Oma Wilde, der erste Feiertag gehörte der allmächtigen Helene und am zweiten Feiertag wurden Tante Ilse und danach die Wildes, Erich und Magda, besucht.

      Nikolas war ruhig bis zum Morgen des zweiten Feiertags. Es war ein grauer Tag im Ruhrpott. Weiß war nur der bleierne Himmel, Nieselregen erfüllte die nebelige Luft. Gegen 11 Uhr fuhr die Familie schweigend im hellblauen Audi durchs Dorf Richtung Tante Ilse, um dort Mittag zu essen. Es gab Geschenke, Sauerbraten und Dr. Oetker-Zitronencreme.

      Gegen 16 Uhr war es dunkel und sie fuhren weiter ins graue Haus an der Hauptstraße, um dort die Geschenke, den Kartoffelsalat und die Würstchen bei den Wildes abzuholen. Nikolas wollte nicht aussteigen.

      Herrmann murmelte was vom heiligen Strohsack und Undankbarkeit und zerrte das schreiende Kind aus dem Wagen und lief wutentbrannt mit Nikolas auf dem Arm das Treppenhaus hoch, stieß Magda, die gerade die Tür öffnete, zur Seite und rannte ins Bad.

      Er hielt Nikolas, der inzwischen blau angelaufen war, unter den eiskalten Wasserstrahl. Anna stürzte, die beiden anderen Kinder hinter sich herziehend, ins Bad. Sie drehte das Wasser ab und gab Herrmann zur Überraschung aller Anwesenden eine Ohrfeige. »Lass den Jungen jetzt in Ruhe, Herrmann!«, sagte sie mit ruhiger Stimme. Sie zog Nikolas an sich und trocknete ihm die Haare. Während er leise vor sich hin weinte, streichelte sie ihn und versuchte, ihn zu beruhigen. Magda kam ins Bad.

      »Ich glaube nicht, dass das die richtige Methode ist, Anna. Der Junge braucht Disziplin und du verhätschelst ihn nur durch dein Gerede.«

      Nikolas hielt sich die Ohren zu und vergrub das Gesicht in den Kaschmirpullover seiner Mutter. Anna sah ihre ältere Schwägerin erstaunt, doch mit ungewohnter Klarheit an. »Immerhin sind es meine Kinder und ich glaube, dass ich wohl am besten weiß, was ich zu tun habe. Herrmann, wir sollten Nikolas nach Hause bringen.«

      »Jetzt hör doch endlich auf, so ein Theater um das Kind zu machen. Er war vier Wochen im Heim und hat immer noch nichts gelernt. Wir bleiben!«, fauchte er und versperrte ihr den Weg.

      Anna schaute von ihm zu ihrer Schwägerin und dann zu Erich, der schweigend etwas abseits stand.

      »Gib mir sofort den Wagenschlüssel, du kannst mit Marie hierbleiben.«

      Herrmann schaute sie mit einem Blick an, der sie hätte töten können, gab ihr aber den Schlüssel, drehte sich um und ging wortlos ins Wohnzimmer. Magda und Erich folgten ihm.

      Anna verließ schweigend mit den Zwillingen die Wohnung. Zwei Stunden später kamen Herrmann und die Goldmarie nach Hause. In dieser Nacht schliefen die Brüder bei Anna im Bett, Herrmann nahm eine Wolldecke und blieb auf dem Sofa.

      In den nächsten Monaten begann eine lange Odyssee für Nikolas. Ohne Herrmanns Hilfe schleppte Anna Nikolas von Arzt zu Arzt, Max immer dabei.

      Nikolas ging nicht mehr zur Schule und schlief weiterhin im Ehebett. Er gewöhnte sich an, im zitronengelben Nachthemd seiner Mutter zu schlafen.

      Herrmann lebte im Zimmer der Zwillinge, rauchte und trank bis spät in die Nacht und ging morgens um sechs ins Bad, um sich zu duschen. Danach fuhr er zur Arbeit. Wenn er um 18 Uhr nach Hause kam, wurde gemeinsam zu Abend gegessen.

      In den folgenden Wochen sprach Anna mit allen weiblichen Verwandten der Familie – außer mit Magda, deren Vorschlag sie ja bereits kannte –, um Rat zu holen, wie es weitergehen könnte. Doch außer einem Achselzucken oder den Vorschlägen, es mit Wadenwickeln oder einer Tracht Prügel zu probieren, war nichts zu holen. An einen erneuten Aufenthalt in einem Kinderheim war aus Kostengründen nicht zu denken.

      Als letzten Ausweg rief Anna Jochen an, einen Freund der Familie. Er war ein überaus erfolgreicher Ingenieur, Junggeselle, schlank, hatte langes Haar, rauchte Kette und arbeitete viel im nahen Osten.

      Anna traf Jochen, der Ende Januar von einem seiner Jobs wiederkam, heimlich bei Lorenzo, dem Eiscafé. Zum ersten Mal seit Wochen kam sie erleichtert nach Hause.

      Eine Woche später, an einem düsteren, schneeverhangenen Mittwochnachmittag im Februar, zog Anna die Zwillinge warm an. Marie war jeden Mittwoch bis zum Abend in einer Bastelgruppe der katholischen Kirche.

      Es klingelte und sie gingen hinunter auf die Straße. Dort wartete Jochen mit einem anderen Mann in seinem weißen VW-Käfer. Er begrüßte Anna mit einem Kuss auf die Wange. Auch der andere Mann küsste sie auf die Wange und strich den Zwillingen über den Kopf.

      Er hatte blondes schütteres Haar, große Hände, trug einen Anzug mit einer Strickweste darunter und hatte freundliche blaue Augen. Sein Name war Klaus und Max mochte ihn sofort. Anna erklärte, dass Klaus ein Freund von Onkel Jochen sei und sie jetzt zu einem Doktor fahren würden, mit dem Nikolas sich unterhalten sollte.

      Sie fuhren nach Bochum. Nach einer halben Stunde stapften die fünf über den Parkplatz durch den Schneematsch und gingen in ein großes weißes Gebäude. Im dritten Stock öffnete ihnen eine nette ältere Frau die Tür. Sie hatte blaues Haar, blaue Farbe auf den Augen und rosa Lippen. Sie führte die kleine Gruppe in ein Zimmer mit einer beigen Tapete und einem dicken braunen Teppich, wo sie warten sollten. Nach einigen Minuten bat sie Anna und Jochen in ein anderes Zimmer. Durch die offene Tür konnte Max einen Mann in einem weißen Kittel sehen, der ihn und Nikolas durch eine große Brille anstarrte. Nach einer Viertelstunde kam Anna aus dem angrenzenden Zimmer und nahm Nikolas mit sich. Max unterhielt sich weiter mit Klaus.

      »Warum kann Klaus nicht mein Vater sein?«, dachte Max. Dann würde er vielleicht auch so eine weiche Strickjacke bekommen und Nikolas müsste keine Angst mehr haben, denn Klaus würde ihn bestimmt nicht schlagen oder zu Tante Magda zerren.

      Max erfuhr nie, was in dem Zimmer nebenan vor sich ging. Nach einer halben Stunde kam Anna mit verweintem Gesicht und Nikolas auf dem Arm wieder zurück. Der Arzt seufzte, als er sich von ihnen verabschiedete. Sie fuhren schweigend zurück nach Hause.

      Max hoffte, dass er Klaus bald wiedersehen dürfte. Die Trennung bereitete ihm einen kleinen Stich in seinem Kinderherzen. Er hatte ihn in den wenigen Stunden liebgewonnen.

      Sie gingen nach oben und Anna brachte Nikolas ins Bett. Danach setzte sie sich mit Max in die Küche und nahm ihm das Versprechen ab, unter gar keinen Umständen jemanden zu erzählen, wo sie am Nachmittag gewesen wären. Feierlich schwor Max, hatte er doch nun ein geheimes Bündnis mit seiner Mutter.

      Nikolas trug seit diesem Besuch nie wieder das gelbe Nachthemd.

      16

      Schützende Hand

      Es klopfte. Die Kellnerin brachte den doppelten Scotch. »Hätte sie nur gleich eine ganze Flasche gebracht«, dachte Max. Er drückte ihr einen Schein in die Hand und sie sah ihn aus großen Rehaugen flirtend an.

      Max hatte zwar schon graues Haar, aber einen kräftigen Oberkörper und das, was man Sexappeal nannte. Nicht dass es ihm eingefallen wäre, sich als erotisch zu bezeichnen. Aber viele Frauen dachten so und er nutzte dieses Wissen, um

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