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Meter weiter parkte Max das Auto am ehemaligen Wohnort der Familie Janos.

      Das Haus war geschrumpft, so schien es ihm, stand aber immer noch auf der höchsten Stelle des Dorfes. Von hier aus hatte man einen Blick auf die Hauptstraße. Der Friseurladen war längst verschwunden. Jetzt befand sich ein Restaurant mit Gartenterrasse in den ehemaligen Räumen des Salons. Die Rollläden waren heruntergelassen, Ruhetag. Die Wohnungen im Hause waren unbewohnt. Keine Gardinen, keine Namensschilder.

      Max beschloss, einen Rundgang durchs Dorf zu machen. Er ging die Hauptstraße herunter, es waren nicht viele Menschen unterwegs. Er sah ein paar ältere Leute, die er nicht kannte, zum Friedhof eilen, junge Mütter mit Kopftüchern und plärrenden Kindern an der Bushaltestelle stehen und Hausfrauen mit Einkaufswägelchen auf den Supermarkt neben der Kirche zustreben.

      Die Kirche stand immer noch mitten im Dorf und der Anblick des Hauses seiner Tante Magda, das genau gegenüberlag, versetzte ihm ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend.

      Es war das trostloseste Haus, das er je gesehen hatte. Ein graues, zweistöckiges Gebäude mit einem betonierten Innenhof, umrahmt von Garagen und Mauern. Um in den Garten zu kommen, musste man durch die Garage gehen, die Magda und Erich gehörte. Die Vorhänge waren zugezogen und die Gardinen an den Seitenfenstern waren blickdicht. Die Wohnungen im hinteren Bereich des Hauses schienen schon lange nicht mehr bewohnt zu sein, die Wurstküche der Fleischerei im Erdgeschoss noch in Betrieb. Die Rolläden waren heruntergelassen.

      Max ging links am Haus vorbei auf den alten Schulhof der ehemaligen Sonderschule. Eine Mauer trennte diesen vom Garten.

      Oft hatten sich Onkel und Tante über den Lärm der Kinder auf dem Schulhof beschwert und schimpfend auf der Gartenseite gestanden und ihnen gedroht.

      Obwohl Max und Nikolas manchmal in den Garten der Tante durften, hatten sie doch nie Freude daran, denn spielen war untersagt. Es war nur gestattet, auf einem Stuhl auf der betonierten Veranda zu sitzen und ein Buch zu lesen oder sich tödlichst zu langweilen. Max schaute über die Mauer in den trostlosen Garten, in dem schon lange nichts mehr gemacht worden war. Ein paar lieblos gepflanzte Blumen verwelkten unter dem bleiernen Himmel, die Gartenwege waren wie der Hof asphaltiert. Ein paar alte Apfelbäume trugen in diesem Sommer noch keine Früchte. Die Rollläden im ersten Stock des Hinterhauses waren heruntergelassen, eine Seite hing schief, das ganze wirkte wie ein Geisterhaus. Befremdet starrte Max auf die Fenster und seine Kehle schnürte sich zusammen. Hastig drehte er sich um, ging zurück zur Straße und befand sich vor der Fleischerei.

      Eine junge Verkäuferin mit schlecht gefärbten Haaren und blauem Lidschatten bediente eine ältere Dame. In diesem Moment kam aus dem hinteren Bereich, in dem schon früher die Familie des Fleischers gewohnt hatte, eine Frau in den Laden. Sie war Ende sechzig, die Dauerwelle durch viel Haarspray gefestigt und sie trug einen weißen Kittel. Sie lächelte der Kundin zu und stellte das Tablett mit der frischen Blutwurst auf den Verkaufstresen.

      In diesem Moment erblickte sie Max, wurde grau im Gesicht und versuchte, sich mit den Händen auf dem Blutwursttablett abzustützen. Da es aber nur halb auf der Anrichte stand, fiel es mit lautem Getöse auf den gekachelten Boden und die Blutwürste rollten durch das Geschäft.

      Max wurde übel vom Anblick des toten Fleisches. Die Frau hinter der Fleischtheke bewegte sich nicht, sondern stand mit unbeweglichem Gesicht an die Ladentheke gelehnt, umgeben von Gehacktem, Blutwurst, Rindersteaks und Aufschnitt.

      Emsig versuchte die junge Verkäuferin, die heruntergefallenen Blutwürste einzusammeln, und fragte die Fleischerin, was los sei. Diese sagte nichts, sondern starrte Max stumm an. Dann rollte ihr eine dicke Träne aus dem rechten Auge und tropfte auf die Blutwurst. Ein kleines Lächeln umspielte den verknitterten Mund und sie hob die Hand, winkte. Max hob die Hand und winkte zurück, ging die vier Stufen zur Eingangstür herauf und betrat die Fleischerei.

      11

      Die erste Trennung

      Paul Wilde senior hatte beschlossen, dass er ein alter Mann sei, zog den Anzug aus und den Morgenmantel an. Er war 71 Jahre alt.

      Danach verließ er die Wohnung nie wieder und tyrannisierte alle, die zu Besuch kamen. Er trank Weinbrand und Bier und entgegen aller guten Ratschläge rauchte er ständig Zigarren. Kam man in die kleine Wohnung der Großeltern, wäre eine Gasmaske durchaus angebracht gewesen, aber Anfang der siebziger Jahre gab es den Begriff passives Rauchen noch nicht und somit war der blaue Dunst, der die Wohnung erfüllte, ganz normal. Der Großvater hatte gelbe Finger, seine Lunge rasselte beim Atemholen und er schlug laut mit dem Löffel gegen den Tellerrand, wenn das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch stand.

      Da er nach einer Operation einen künstlichen Darmausgang hatte, aber nicht jeden Tag von einer professionellen Hilfe versorgt werden wollte, musste Herrmann neben den Einkäufen und den sonntäglichen verräucherten Kaffeebesuchen auch zweimal in der Woche nach der Arbeit die Windeln seines alten Vaters wechseln. War er beruflich verhindert, wurde Anna diese zweifelhafte Ehre zuteil.

      Oft endete diese Aktion in lautstarken Beschimpfungen gegen Anna, diese in seinen Augen nichtsnutzige junge Frau. Alle anderen Verwandten hatten sich wohlweislich aus diesen Pflichten herausgewunden und schimpften nur hinterrücks über den alten Paul, dem es keiner recht machen konnte.

      Anna, damals Mitte zwanzig mit drei kleinen Kindern, lief oft zu ihrer Schwägerin Magda, die ja nur hundert Meter entfernt in ihrer Wohnung auf die Jüngere wartete, um dann gegen den ganzen Wilde-Clan Gift zu sprühen.

      Herrmann beschloss, zurück nach Schwarzhausen zu ziehen. Ende August zog die Familie Wilde in eine Fünf- Zimmer-Wohnung. Die Zwillinge waren sieben Jahre alt geworden in diesem Sommer.

      Das Haus aus der Jahrhundertwende gehörte dem verknöcherten, magenkranken alten Herrn Knufmann, der im Erdgeschoss mit seiner kurzsichtigen und einem Frettchen ähnelnden Frau Bertha wohnte. Im zweiten Stock wohnte der Sohn des Hauses mit seiner geschwätzigen, immer lachenden Frau und seinen drei Kindern.

      Die Nachbarschaft war gutbürgerlich und provinziell. Die Zwillinge teilten ein Zimmer, Marie, da schon fast drei Jahre älter, residierte im Einzelzimmer mit Waschbecken.

      Sie spielten unter den Augen des greisen und grantigen Nachbarn Herrn Fost mit den anderen Kindern im Garten nebenan, machten Schularbeiten und gingen am Wochenende zum verrauchten Großvater. Alles verlief ruhig.

      Anna und Herrmann waren beide sehr aktiv in der katholischen Kirche, im Kirchenvorstand, Pfarrgemeinderat, Kirchenchor und Kolpingverein. Letzterer traf sich jeden Freitag um 20 Uhr im Jugendheim. Nach Diskussionen um das seelische Wohlergehen der Gemeinde begab sich die Gruppe, damals bestehend aus dreißig Männern, in die populärste Kneipe des Ortes, Roberts, um ausgiebig zu trinken.

      Alle paar Monate organisierte die Kolpingsfamilie eine Bildungsreise für die Mitglieder und ihre Ehefrauen. Für ein Wochenende im September war Berlin angedacht. Anna war froh, dem dörflichen Mief für einige Tage zu entkommen. Die Goldmarie wurde ins Paradies zur gutmütigen Tante Ilse auf den Hügel geschickt, die Zwillinge sollten bei Magda untergebracht werden.

      Am Donnerstagabend klingelte das Telefon und eine schmerzgeplagte Magda ließ verlauten, dass sie es, wie sie sich ausdrückte, an der Pumpe hätte und außerdem Migräne im Anzug wäre, da das Wetter mal wieder umschlagen würde. Sie könne nur einen Jungen aufnehmen, Nikolas.

      Anna machte kurzerhand Helene mobil. Unter schwerem und tränenreichem Protest wurden Nikolas und Max getrennt, da sich Helene ebenfalls außerstande sah, für zwei Enkelkinder gleichzeitig zu sorgen.

      Max war geschockt. Noch nie war er von seinem Bruder getrennt gewesen. Während er bei seiner Großmutter in der Küche saß und mit feuchten Augen Kakao trank, kroch ein schlechtes Gewissen in ihm hoch. Es musste doch einen Grund geben, dass seine Mutter ihn von Nikolas getrennt hatte.

      In dieser Nacht träumte Max von Ratten in einer dunklen Höhle, die wie überdimensionales Brot aussah, das von innen völlig zerfressen war. Die Ratten hatten nichts, um den Hunger zu stillen. Zu Hunderten starrten sie Max aus ihren rot unterlaufenen Augen an und gierten nach seinem Fleisch. Er lief und lief, fand aber keinen Weg, denn die Höhle war unendlich, ein dunkler, zerfressener

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