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Katharsis. Drama einer Familie. Michael Reh
Читать онлайн.Название Katharsis. Drama einer Familie
Год выпуска 0
isbn 9783862827473
Автор произведения Michael Reh
Жанр Современная зарубежная литература
Издательство Readbox publishing GmbH
Er war noch ein Kind. Die Sonne schien durchs Fenster. Es war um die Mittagszeit im Spätsommer. Draußen war es ruhig, die an das Haus angrenzende Schule war leer, es waren Ferien. Der Geruch von abgekochtem Fett und frischer Blutwurst zog aus der Fleischerei im Erdgeschoß durchs Küchenfenster und Max, noch immer auf dem Sofa liegend, schaute durch die Küchentür in den Flur der Wohnung und sah eine selbstgestrickte Puppe auf dem Regal sitzen. Tante Magdas Hund, ein alter stinkender Terrier namens Mecki, lag in seinem abgewetzten Hundekorb. Max stand auf und wollte ihn streicheln, merkte aber, dass Mecki ausgestopft war. Tote Glasaugen sahen ihn ausdruckslos an. Max schaute nach rechts in das tieferliegende Badezimmer.
Die Übelkeit kam unerwartet, denn ausgestreckt an den Rand der alten Badewanne gelehnt lag Magda, die Augen weit geöffnet, die Hände verkrampft. Jemand hatte sie erschlagen, an ihrem gespaltenen Schädel klebte ein Rinnsal getrockneten Blutes.
Max öffnete den Mund und schrie, doch kein Laut kam heraus. Er versuchte zu fliehen, konnte jedoch keinen Muskel bewegen. Tote Hundeaugen fixierten ihn und es dauerte unendlich, bis ein lang gezogener Schrei aus seiner trockenen Kehle hervorbrach. Zuerst kaum vernehmbar, dann immer lauter werdend. Schweißgebadet wachte er auf.
Vollkommen verwirrt bemerkte er, dass die Empfangsdame der Lounge im Türrahmen stand und ihn entsetzt anstarrte. »Herr Remark, Ihr Flug geht in zwanzig Minuten«, krächzte sie und verschwand.
Erschrocken fuhr sich Max mit der Hand über die Stirn und zuckte schmerzhaft zusammen. Er hatte die Klammer vergessen und fühlte sich wie nach einem Marathon. Er nahm sein Handgepäck und stolperte durch die Passkontrolle und den Bodycheck, lief den langen Flur zum Flugsteig hinunter und erreichte die Maschine.
Noch ehe der Flieger abhob, versank Max völlig erschöpft in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Er verpasste die drei Gänge des Menüs, die Ansage des ersten Offiziers und des Kapitäns und wachte erst nach zwei Stunden in der abgedunkelten Maschine mitten über dem Atlantik wieder auf. Fast alle Gäste schliefen, ein paar schauten Videos auf ihrem Inseat-Monitor und drei Geschäftsleute bereiteten Unterlagen für die Sitzung vor, die ihnen in ein paar Stunden trotz Jetlag bevorstand.
Max war jetzt hellwach, ging zur Stewardess und bestellte einen Kaffee und einen doppelten Whiskey. Seine Gedanken in dem kleinen Raum in zehntausend Metern Höhe gingen zurück zu seinem Traum, den er nicht verstand.
Warum lag Magda mit aufgeplatztem Schädel neben ihrer Badewanne und ließ sich von ihrem ausgestopften Terrier anstarren? Max hatte die Frau seit Jahrzehnten nicht mehr getroffen, konnte sich nicht einmal erinnern, sie auf der Beisetzung seiner Mutter gesehen zu haben.
Alles, was ihm einfiel, waren Begegnungen in der Kindheit. Geburtstage, die Kommunion, Familienfeiern, bei denen man feucht-fröhlich Zusammenhalt vorgaukelte, sein Bruder, der sich immer ängstlich verkroch.
Magda und Erich waren oft dabei und dennoch hatte Max kein Bild von ihnen aus späteren Jahren. Es war wie ein eiserner Vorhang, der nicht nach oben gehen wollte, so wie im Theater, wenn auf der Bühne oder im Zuschauerraum Feuer ausbricht und entweder die Zuschauer oder die Akteure vor den verzehrenden Flammen geschützt werden sollen.
Tante Magda. Jahrelang hatte er nicht an diese Frau, die er nie sonderlich mochte, gedacht. Sie musste inzwischen fast achtzig sein.
Und dennoch war das Bild ihres zertrümmerten Kopfes, ihres erstaunten Gesichtsausdruckes so klar und real, dass ihm schlecht wurde.
9
Nie allein
Man drückte Anna kurz nach der durch das Treppenputzen eingeleiteten Geburt ihre beiden verquollenen, eher nach Minigreisen aussehenden Babys in die kraftlosen Arme. Automatisch quäkten sie nach der mütterlichen Brust, die ihnen aber aufgrund einer schmerzvollen Brustwarzenentzündung nicht gereicht wurde.
Somit nahm die Schwester die Neugeborenen aus den warmen Armen der Mutter wieder weg, nicht ohne ihr zu versichern, dass besonders hässliche Babys zu besonders hübschen Kindern heranwachsen würden. Anna bezweifelte dies, drehte sich um, bekam eine Morphiumspritze nach der schweren Geburt und war für die nächsten Stunden außer Gefecht gesetzt. Treppenputzen, ob vom Arzt verordnet oder nicht, war ihr nach diesem Erlebnis für den Rest ihres Lebens zuwider.
Die Schwester mit dem schönen deutschen Namen Gisela hatte im Bezirkskrankenhaus schon viele Babys zur Welt gebracht. Schnurstracks und ohne viele Fisimatenten wusch sie die schreienden Bündel mit lauwarmem Wasser, gab ihnen die Flasche und steckte sie ins Bett auf die Säuglingsstation. Dann rief sie bei der frischgebackenen Großmutter Helene an, mit der sie die Grundschule besucht hatte. Während die Goldmarie mal wieder Omas Bluse mit Spinat vollkotzte, erfuhr Helene, dass Anna Zwillinge zur Welt gebracht hatte.
Sie seufzte. Man stelle sich das nur vor: das erste Kind, leider nur ein Mädchen, kotzte ständig alles wieder aus, war zudem alle Nase lang krank und jetzt auch noch Zwillinge. Immerhin waren es Jungen. Wie Anna das hingekriegt hatte, wusste der Himmel.
Nachdem Helene ihrem ungeliebten Schwiegersohn in seinem Büro in Duisburg mitgeteilt hatte, dass er Vater von zwei Söhnen geworden war, war ihre Laune nicht besser. Musste sie doch mit der nicht mittagsschlafenden, dafür aber quäkenden und spinatverschmierten Goldmarie durchs halbe Dorf ziehen, um bei der Post auf der Hauptstraße den öffentlichen Fernsprecher zu benutzen. Ein eigenes Telefon gab es im Hause Remark damals noch nicht.
Die ersten Jahre der Zwillinge waren ungetrübt.
Im Sommer spielten sie im Garten der Großeltern, badeten in der Zinkbadewanne, kuschelten mit der Mutter und ärgerten die Schwester. Sie klebten förmlich an ihrer Mutter, ihrer Göttin, die an Schönheit nur von der Elizabeth Taylor ähnlich sehenden Nachbarin Frau Stahlke übertroffen wurde. Diese bereitete auch noch Nutellabrote zu, die es zu Hause nicht gab, da der Vater diesen Süßkram untersagte.
Marianne Stahlke wohnte zwei Häuser weiter, hatte ebenfalls drei Kinder, eine Küche, deren Tapete mit italienischen Motiven verziert war, und sie konnte grandios Mirácoli, den letzten Schrei von Kraft, zubereiten. Leider hatte sie einen Gatten, der sie zu allen nötigen und unnötigen Anlässen vertrimmte.
Herrmann empfand die Familie Stahlke als nicht gesellschaftsfähig und grüßte das Ehepaar nur höflich von der anderen Straßenseite. Anna und die Zwillinge mochten diese Frau aufrichtig und verabscheuten ihren Mann zutiefst. Er schlug nicht nur sie, sondern auch seine Kinder. Außerdem stank er immer nach billigen Zigarillos, hatte verfärbte Zähne, ließ die Badezimmertür ständig offen, wenn er auf dem Klo saß, und schlürfte beim Mirácoli-Essen so laut, dass einem der Appetit verging.
Das Fernsehen spielte eine große Rolle für Max, sah er dort doch die unterschiedlichsten Leute, Länder und Lebensweisen. Vieles verstand er nicht, doch sah er Menschen in einer Stadt namens Paris, in der es nur Pferdekutschen gab und wo die Frauen noch lange Kleider trugen. Besonders ein Film namens Die Halskette beeindruckte ihn. Weder wusste er, dass es sich um eine Romanverfilmung von Maupassants Le Collier handelte, noch dass es ein Lehrstück in Sachen Moral war. Auch war ihm natürlich nicht bewusst, dass Maupassant ein Frauenvernascher und vor über hundert Jahren an Syphilis gestorben war. Das sollte er erst zehn Jahre später im Französischunterricht erfahren.
Ihn rührte die treppenputzende schöne Frau in diesem Film und somit avancierte er ungewollt zum Lieblingskind der gesamten Nachbarschaft. Über Nacht war sein Lieblingsspiel das Treppenputzen geworden. Er putzte und putzte, während Nikolas mit strengem Blick daneben saß. Die Hausfrauen der Nachbarschaft konnten sich gar nicht beruhigen, dass der hübsche blonde Max so gerne die Treppen säuberte.
Oft bekam er zehn oder zwanzig Pfennig für dieses Spiel, das mehr mit einem Theaterstück zu tun hatte als mit der korrekten Treppensäuberung. Die Zwillinge trugen den erstverdienten Lohn zur Bude. So hießen damals im Ruhrpott die Kioske, heute auch Trinkhallen genannt. An der Bude gab es an die fünfzig verschiedene Behälter mit Süßkram, dem wahren Objekt der Begierde. Schaumzucker-Erdbeeren, Gummischlangen, Kokosquadrate mit Schokolade überzogen, Geleehimbeeren, Liebesperlenketten, Duplos, Milkyways und Marsriegel. Nach heutigen ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen