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Haus auf der linken Seite hatte Dr. Betrail seine Praxis. Nikolas musste sich auf den Behandlungstisch legen. Der Arzt drückte mit großen Händen auf seinem Bauch herum und stellte Fragen, die Max nicht verstand. Dann erklärte er, dass Nikolas eine Blindarmentzündung hätte und ins Krankenhaus müsste. Der Arzt flüsterte Anna etwas zu und sie verließ mit Max den Raum. Nach einigen Minuten wurden sie wieder hereingerufen. Nikolas starrte den Mann im weißen Kittel entsetzt an.

      Am nächsten Tag brachte Anna ihn ins Bezirkskrankenhaus. Sie konnte nicht bei ihm bleiben, denn das war gegen die Vorschriften. Drei Tage später besuchte sie ihn. Nikolas sprach kein Wort und weinte auch nicht. Er lag regungslos im Bett. Nach zwei Wochen wurde er mit einer großen Narbe am Bauch entlassen.

      Tags darauf hörte Max seine Eltern im Schlafzimmer reden. Er presste sein Ohr an die Tür, als er seinen Namen hörte. Anna weinte, Herrmann sprach in kaltem Ton von schwer erziehbaren Kindern, die Probleme machten, und dass er mit seinem Latein am Ende wäre. Er habe heute mit Erich und Magda gesprochen und die hätten ihm geraten, Nikolas in ein Kinderheim zu schicken, damit er wieder richtig essen würde und nicht so bockig wäre. Max’ Hals wurde trocken. In fünf Wochen war Weihnachten.

      Unvermittelt riss Herrmann die Tür auf. »Was erdreistest du dich und lauscht hier an der Wand? Dir werd ich zeigen, wer hier der Herr im Haus ist. Eine Unverschämtheit!« Und schon hatte er den Gürtel aus seiner Hose gezogen und schlug auf Max ein, der in sein Zimmer floh.

      Herrmann folgte ihm Wut schnaubend, ein bebender Fleischberg von 120 Kilo, das Gesicht rot vor Wut. Marie und Nikolas sahen die beiden kommen und fingen ebenfalls an zu schreien. Marie hing sich an den Arm ihres Vaters, um ihn davon abzubringen, Max weiter zu verprügeln, Nikolas schrie und zog sich in die Ecke des Zimmers zurück.

      Anna schaffte es schließlich, Herrmann zu beruhigen. Marie und Max wurden leise, nur Nikolas stand in seiner Ecke und schrie. Er schrie, ohne Luft zu holen und lief blau an. Seine Augen verdrehten sich nach oben, so dass fast nur das Weiße zu sehen war. Kurzerhand schnappte sich Herrmann seinen schreienden Sohn, ging ins Bad und stellten den Schlauch der Dusche an. Eiskaltes Wasser spritzte zu allen Seiten und er hielt Nikolas’ Kopf in den Wasserstrahl. Max starrte die beiden an, Nikolas bekam einen Schock, verschluckte sich, fing an zu husten und hörte auf zu schreien.

      Laut schnaufend stellte Herrmann Nikolas hin, drehte den Wasserhahn zu und schaute Anna an: »Magda hatte Recht. Das wirkt und wir hätten es schon viel früher machen sollen! Morgen meldest du beide Jungs für das Kinderheim an. Es reicht mir.«

      Drei Tage später brachte Anna die Zwillinge im wilden Schneegestöber des ersten Wintereinbruchs in ein katholisches Kinderheim, wo sie vier Wochen von Nonnen zum Essen und zur Gehorsamkeit erzogen wurden. Sie mussten die Betten selber machen, morgens um fünf aufstehen, Haferschleim und Joghurt essen. An den Nachmittagen wurde gebastelt. Nikolas war immer an Max’ Seite, sprach aber nach wie vor nicht. Max gewöhnte sich daran.

      Am 22. Dezember war die Zeit im Heim vorbei. Anna holte ihre Söhne am Busbahnhof in Lüdow wieder ab. Sie kam eine halbe Stunde zu spät und erklärte, dass der Schnee und die Straßenverhältnisse daran Schuld hätten. Max wusste es jedoch besser. Sie stiegen ins Auto und fuhren zurück ins Dorf. Es schneite, Anna konnte nur sehr langsam fahren. Während der Fahrt, die vielleicht eine halbe Stunde dauerte, schaute Anna die Jungen immer wieder an und beteuerte, wie froh sie sei, dass beide wieder zu Hause seien. Sie glaubten es ihr nicht.

      Zu Hause angekommen, lief ein dick vermummtes Mädchen auf sie zu, völlig mit Schnee bedeckt. Marie drückte erst Max und wandte sich dann zu Nikolas. Er schaute sie an, sagte kein Wort, drehte sich um und ging zur Haustür.

      Er hatte seit dem Besuch bei Magda kein Wort gesprochen. Er würde für eine sehr lange Zeit nicht mehr sprechen.

      14

      Ad Absurdum

      Max hatte im Laufe seines Lebens eine wunderbare Technik entwickelt, sich gegen alles zu schützen. Die Schneekönigin kam und legte einen Ring aus Eis um sein Herz und er fühlte nichts mehr.

      Als er seinen Vater in Magdas Wohnung nach zwanzig Jahren wiedersah, funktionierte der Schneeköniginmechanismus wie immer hervorragend.

      Herrmann starrte ihn fassungslos an. Das alte Gesicht vereiste, wurde hart und verschlossen. Nichts hatte sich geändert.

      »Maximilian, ich wusste nicht, dass du in der Stadt bist.«

      Max bemerkte, dass sich der Umschlag, den sein Vater sich in die Brusttasche gesteckt hatte, etwas wölbte. Offensichtlich war mehr als ein Dokument darin. »Ob da wohl das Testament drin ist?«, dachte er beiläufig.

      Herrmann reichte Max seine Hand mit ausgestrecktem Arm entgegen. Max hasste diese ausgestreckte Hand, die nicht zu seinem Vater zu gehören schien, sondern die er wie einen Fremdkörper zwischen sich und andere stellte. Marie konnte er ohne weiteres in den Arm nehmen, aber bei Nikolas und Max kam dies einer Unmöglichkeit gleich. Wenn Nikolas wieder einmal aus einer Klinik oder von einer Sonderbeobachtung nach Hause kam, tätschelte Herrmann ihm kurz das Haar, als ob die Berührung seiner Haut ihm zu persönlich schien.

      Max ignorierte die Hand. Sie war alt und faltig geworden, leblos.

      Sie standen sich wie zwei Statuen aus Eis gegenüber. Max dachte, dass er wirklich dringend etwas zu trinken brauchte, um diese ganze Scheißsituation wegzuspülen. Hier stand er mit seinem Vater im Schlafzimmer seiner Tante, dabei sollte er doch auf einer Karibikinsel Bademode fotografieren, am Abend heftig Rum trinken und dann das Model vögeln. Die Situation war so absurd, dass er lachen musste.

      Herrmann starrte ihn entgeistert an. Max schüttelte den Kopf: »Keine Angst, hat nichts mit dir zu tun«, log er, obwohl ja alles was mit ihm zu tun hatte.

      »Was machst du denn hier?«

      »Ich sortiere die Kleidung von Magda und Erich und werde sie morgen an die Kleiderkammer der Kirche weitergeben, es ist ja nichts beschädigt. Die Beerdigung ist übermorgen, die Leichen sind freigegeben. Sie werden in der Familiengruft beigesetzt.«

      Falls er trauern sollte, so merkte man ihm nichts an. Herrmann gehörte zu der Sorte Menschen, die ihre Gefühle niemals zeigten, bis auf eine Ausnahme: unter Alkoholeinfluss.

      Das einzige Mal, als er Max in den Arm nahm, war er so besoffen, dass es Max anwiderte. Bis heute konnte er seine Fahne riechen, seine glasigen Augen sehen, seine gestammelten Worte: »Komm doch mal her und gib deinem Vater einen Kuss«, hören und alles wand sich in ihm.

      Bis zu seinem 21. Lebensjahr hatte er keinen Alkohol getrunken. Insofern war es gut, dass sein Vater ein funktionierender Alkoholiker war: Er bewahrte Max zumindest eine Zeit lang vor einem zu frühen Tod.

      »Warum hat Nikolas das getan? Ist er durchgeknallt, hat er neue Medikamente bekommen?«

      »Das kann ich dir nicht sagen. Woher soll ich das wissen? Er wohnt nicht bei mir und ist schließlich ein erwachsener Mann.«

      Max starrte seinen Vater fassungslos an, obwohl er dessen Reaktionen nur zu gut kannte. »Aber er wohnt doch im gleichen Haus wie du.«

      »Was nicht bedeutet, dass ich weiß, was er treibt, oder verantwortlich für ihn bin, er hat sich von mir abgewandt und …«

      Wütend entgegnete Max: »Er hat sich von dir abgewandt? Das ist ja wohl das Letzte. Wie kannst du nur so etwas behaupten, das stimmt doch so nicht. Du hast ihn allein gelassen, hast ihn verprügelt und dann ständig in Sanatorien und Psychoheime gesteckt.«

      »Das geschah nur zu seinem und eurem Besten. Er war schließlich ein schwer erziehbares Kind und wurde ja später auch als Autist diagnostiziert. Was sollten deine Mutter und ich tun? Wir haben versucht, euch gleich zu behandeln und das Beste aus der Situation zu machen. Er hat sich von uns abgewandt, nicht wir uns von ihm.«

      Max konnte nicht glauben, dass sein Vater sich selbst nach diesen Morden noch weiter belügen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken. Er glaubte anscheinend wirklich, richtig gehandelt zu haben.

      »Du bist immer noch ein selbstgefälliges Arschloch, daran hat sich wohl nichts geändert. Lieber die Kinder opfern, als

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