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und selbst jeder Gedanke fiel mir so unendlich schwer...

      Eine niederdrückende Lethargie breitete sich in mir aus. Am Fuß der breiten Treppe, die hinauf zum Portal führte, sank ich nieder. Ich fühlte kaum den kalten Stein der Stufen.

      "Ich kann nicht mehr", murmelte ich. Er nickte.

      Zweifellos wusste er, was mit mir los war.

      "Dann warten Sie hier!"

      "Sie werden es schaffen, ja?"

      "Ich weiß es nicht."

      "Sie werden Tom..." Ich konnte nicht mehr. Der Tod, dachte ich. Ein Zustand vollständiger Auflösung... Ich hatte das Gefühl, diesem Zustand sehr, sehr nahe zu sein...

      Undeutlich nahm ich das Geräusch der Schritte wahr, mit denen Willard die Treppe hinaufstieg.

      Ich sank vollends auf die Steine.

      Es war alles andere, als ein bequemes Ruhebett. Kein Ort, an dem man sich zur Ruhe legen wollte. Aber in diesem Augenblick war es mir gleichgültig.

      "Tom", flüsterten meine Lippen kaum hörbar.

      *

      DIE ARME, DIE TOM GEHALTEN hatten, zerfielen vor seinen Augen zu Staub. Die Körper zerfielen innerhalb eines Sekundenbruchteils. Der Eiswind, der aus dem Nichts kam wirbelte die Staubkörner noch einmal auf, ehe sie sich buchstäblich in Nichts aufgelöst hatten.

      Mary hielt sich am Fensterrahmen fest. Sie wankte. Ein leises Stöhnen entrang sich ihren Lippen. Ihre weiße Elfenbeinhaut war jetzt so faltig wie zerknittertes Pergament. Ihr Haar von einer Sekunde zur anderen ergraut, die Augen matt und farblos.

      "Tom", flüsterte sie.

      Irgend etwas hatte ihr innerhalb eines einzigen Augenaufschlags einen erheblichen Teil ihrer Kraft genommen. Schritte waren nun zu hören. Tom drehte sich herum.

      "Willard!", entfuhr es ihm.

      Die düstere Gestalt mit Umhang und Zylinder näherte sich. Das eigenartige fluoreszierende Leuchten, das diesen Mann umgab, ließ ihn wie ein Gespenst erscheinen. Das grelle, dämonische Leuchten in seinen Augen begann zu pulsieren. Willard musterte Tom kurz.

      Dann wandte er sich an Mary, die sich bereits wieder etwas erholt zu haben schien.

      Ihr Haar hatte wieder Farbe bekommen. Die Haut war glatter. Sie brauchte sich nicht mehr aufzustützen.

      "Was soll das, Willard?", kreischte sie. "Du weißt, wie das endet! Du bist nicht stark genug, um..."

      "Diesmal vielleicht doch" sagte Willard Delancie ruhig.

      "Und du weißt es..."

      "Nein!"

      "Wir müssen endlich unseren Frieden finden, Mary. Endlich, nach all der Zeit, die wir schon in dieser grauen Ödnis verbringen! Du in diesen modrigen Mauern, ich da draußen, auf geheimnisvolle Weise an dich gekettet!" Willard deutete auf Tom. "Gehen Sie, Lord Millroy. Meine Schwester wird sie nicht daran hindern!"

      "Nein!", schrie sie. "Schon damals hast du mir mein Glück nicht gegönnt, Willard!"

      "Mary! Soll dieser Fluch denn nie von uns genommen werden! So komm doch zur Vernunft!"

      Ein fauchender Laut kam über Marys Lippen. Sie verwandelte sich auf ähnliche Weise, wie Tom es bereits einmal bei ihr gesehen hatte. Ihr Mund wuchs zu grotesker Größe. Große, beulenartige Auswüchse wucherten aus ihrem Schädel heraus und binnen eines einzigen Momentes war aus ihr ein grauenerregendes Monstrum geworden. Ihre Augen leuchteten jetzt beinahe so grell wie die ihres Widersachers. Wie eine Katze stürzte sie sich auf ihn.

      Blitze zuckten aus ihren Fingern heraus und trafen Willard, aus dessen Händen rötliche Strahlen herausschossen. Tom musste die Augen schützen.

      Ein dumpfes Brummen ließ den Boden erzittern. Risse begannen sich in den Wänden dieses grauen Gemäuers zu bilden. Die Bilder wackelten und schließlich krachten die ersten von ihnen aus ihren Halterungen. Glas splitterte. Die Fenster barsten eines nach dem anderen.

      Tom lief den Flur zur Empfangshalle entlang. Er stolperte ihn vielmehr. Nur einmal blickte er kurz zurück. Er nichts weiter als ein Licht, das so grell war, wie es im Zentrum der Sonne sein mochte. Ein Feuer wie im furchtbarsten Höllenschlund.

      Und doch war es kalt.

      Eiskalt.

      Die Temperatur schien ins Bodenlose zu fallen. Tom hatte das Gefühl, in einen Kühlraum zu treten, als er die Eingangshalle erreichte. Überall hatten sich nun Risse durch die Wände gezogen. Sie sahen aus wie mäandernde Flüsse auf einer Landkarte. Steinbrocken krachten herab und zerplatzen am Boden. Tom erreichte die Tür, während hinter ihm das Chaos ausbrach. Ein Inferno des Grauens.

      *

      HÄNDE FASSTEN MICH bei den Schultern. Der Blick graugrüner Augen musterten mich. Augen, die mir so unendlich vertraut waren.

      "Tom", flüsterte ich matt.

      "Patti!"

      Er beugte sich über mich. Das dumpfe Grollen im Hintergrund nahm ich kaum wahr. Aber es konnte nichts Gutes verheißen.

      "Wir müssen hier weg!", sagte Tom.

      Er versuchte mich auf die Beine zu stellen. "Was ist geschehen?", murmelte ich.

      "Nicht jetzt! Jetzt komm!"

      "Ich kann nicht!"

      "Du musst!"

      Ich versuchte, alles an Kraft in mir zu mobilisieren. Tom legte seinen Arm meine Taille und sich den meinen um seine Schulter.

      Immer noch waren meine Beine wie aus Blei, aber wider erwarten konnte ich mich einigermaßen abstützen, während wir voran stolperten. Hinter mir war zu hören, wie Steine auseinander barsten, Träger einstürzten und Mauern zerbrachen.

      Ich schaute kurz zurück.

      Grelle Blitze erfüllten das verwinkelte Gebäude. Und eine leuchtende Aura umfing es.

      Wir liefen weiter. Zwischendurch sank ich vor Erschöpfung zu Boden, aber Tom hob mich hoch. Immer weiter ging es durch den wabernden Nebel. Als ich mich das nächste Mal umsah, war von Delancie Castle nichts mehr zu sehen. Hinter uns war nur eine graue Nebelwand.

      "Was geschieht nun?", flüsterte ich.

      "Ich weiß es nicht", sagte Tom.

      Wir wussten nicht, wohin wir liefen. Vielleicht drehten wir uns im Kreis, ohne es zu merken.

      Schließlich waren wir so erschöpft, dass wir uns auf dem Boden niederließen. "Nur eine kurze Pause", sagte ich. Tom widersprach nicht.

      Auch er war erschöpft. Ich lehnte mich gegen ihn. Die letzte Erinnerung, die ich dann hatte war das Schlagen seines Herzens. Ein regelmäßiger, beruhigender Rhythmus, der mich in den Schlaf völliger Erschöpfung sinken ließ.

      *

      ALS ICH ERWACHTE, LAGEN wir nebeneinander auf dem Boden. Es war das kalte Pflaster eines Bürgersteigs. Ich schreckte auf und war auf einmal hellwach. Ich fasste Tom bei der Schulter. Er rührte sich und blickte sich ebenso erstaunt um. Der Bürgersteig, auf dem wir lagen, gehörte zu einer Nebenstraße in einem der zahllosen, ineinanderwachsenden Londoner Vororte. Rechts und links befanden sich je eine Häuserzeile. Es war Nacht. Am Himmel funkelten die Sterne. Das nächste, was ich registrierte, war, dass es sehr warm war, verglichen mit jenem Ort, an dem wir uns gerade noch befunden hatten. In den dicken Tweed-Sachen, die wir trugen, würden wir innerhalb kürzester Zeit zu schwitzen beginnen.

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