Скачать книгу

zu sitzen. Ich denke darüber nach, zu sagen, dass ich aussteigen möchte, kann mich aber nicht durchringen, wer weiß, wann der nächste Bus kommt, und ob er überhaupt anhalten würde. Fast zwei Stunden später hat es der Fahrscheinverkäufer auf einmal ganz eilig, mich loszuwerden . Bevor ich mir noch in die Hose mache, greife ich mir meinen Rucksack, zwänge mich zur Tür. Auf einem Schild steht Mamallapuram und eine Fünf, ich kann mein Glück gar nicht fassen. Eine Fünf … eine Fünf.

      Nach den längsten fünf Kilometern meines Lebens steige ich aus dem Bus in das schmuddelige Draußen, öffne die Gepäckklappe und zerre den dunkelroten Koffer hervor. Kaum habe ich die Klappe zugeschmissen, fährt der Bus weiter. Ich eile mit zusammengekniffenen Beinen auf ein Mäuerchen zu, öffne mir hektisch die Jeans und pinkle erleichtert los. Währenddessen kommt eine dreirädrige Rikscha angerumpelt, trötet ohne Unterlass, der Fahrer, beinah ein Kind, ist erfreut, mich zu sehen. Der Junge fährt mich in das Städtchen, er kennt sich aus, redet mit den Einheimischen, bald schon habe ich wenige Meter vom Strand im ersten Stock eines blauen Gebäudes eine günstige Unterkunft mit Bett und eigenem Badezimmer. Das Ganze war eine schlechte Wahl. Aber das begreife ich erst später. Die Wände sind bei genauer Betrachtung verschimmelt, das Bad ist völlig verrostet, es tropft und schmiert aus allen Ritzen, zum Anfassen ist hier nichts. Die Matratze ist nicht durchgelegen, wie man es sonst aus billigen Absteigen kennt, sondern hart wie ein Brett.

      Trotz des leichten Regens gehe ich an den Strand, wo es deutlich windiger ist. Der Himmel ist schwer wie Blei und sieht aus, als würde er bald in den Ozean stürzen. Schmale bunte Fischerboote, schwere ölverschmierte Motoren und zusammengerollte Netze, die wie riesige Quallen aussehen, liegen kreuz und quer im Sand. Dazwischen Plastikflaschen, abgemagerte Kühe, hinkende Hunde und hockende Männer. Die Fassaden der Restaurants und Guest Houses, die an den Strand angrenzen, sind in knalligen Farben gehalten.

      Ich schaue auf den gewaltigen Ozean, super Breitbild, er braust und schwappt, als würde einer das Aquarium hin und her wiegen.

      Seit knapp dreißig Stunden habe ich nicht geschlafen, rechne ich aus. Gemessen daran, geht es mir gar nicht so schlecht. Zwei fliegende Händler, denen der warme Nieselregen auch nichts ausmacht, sprechen mich an, sie bieten Schmuck und Tücher. Ich habe nicht das geringste Interesse, zeige ihnen das Foto von Melek, auf dem der Wind ihre langen schwarzen Haare verweht, und sie lacht. Es ist das einzige Foto, das ich noch besitze, alle anderen hat sie mitgenommen oder verbrannt.

      Einer der Händler meint, er hat ihr hier am Strand vor zwei Wochen ein Armband verkauft, was nicht sein kann, da sie da noch in Köln war.

      Kurz vor meinem Guest House fragt mich ein langhaariger Bursche im Bob Marley-Shirt, der maximal fünfzehn oder sechzehn Jahre alt ist, ob ich Marihuana kaufen möchte. Ich bin nicht abgeneigt und schlage vor, dass er mir seine Ware oben auf meiner Terrasse zeigt. Das Zeug macht einen ganz guten Eindruck. Und eintausend Rupien für zwanzig Gramm Marihuana ist extrem billig. Ich bin dennoch unschlüssig, sollte ich tatsächlich wieder mit dem Kiffen anfangen? Und was passiert, wenn die Polizei mich mit so viel Gras erwischt? Ich sage, dass ich nur fünf Gramm brauche.

      „All or nothing, that is the deal“, sagt er, und nimmt die Ware wieder an sich. „A lot of people –“

      „Okay, okay.“

      ***

      Kaum habe ich mich hingelegt, ertönt ein ohrenbetäubendes, fürchterliches Getrommel, Getröte und Gejaule, ich kann es gar nicht fassen, so laut ist das. Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich keine drei Meter entfernt einen großen Lautsprecher an einem Mast, der genau auf mich ausgerichtet ist. Ich weiß nicht, ob die Musik Propagandazwecken dient oder hier jemand das Unterhaltungsmonopol auf die halbe Stadt besitzt. Ich ziehe mich wieder an, kaufe mir in einem kioskähnlichen Lädchen lange Blättchen, ein Päckchen Drum, Feuerzeug, Toilettenpapier und eine Flasche Wasser. Die Verkäuferin, eine ältere mollige Frau in einem feinen rotgoldenen Sari weiß auch nicht, wann die Musikdarbietung ein Ende hat. Sie sagt etwas von einem Festival und hebt anmutig ihren Kopf.

      Als ich wieder auf die Straße trete, hat der Regen aufgehört, doch Windböen ziehen wie Gespenster durch die Gassen. Zwei Pärchen schlappen händchenhaltend Richtung Strand, die Verkäufer vor ihren Geschäften nennen sie Freunde und bitten, sie sollen doch eintreten, sich ihre Waren anschauen. „Is very good, very cheap. Everything is possible“, höre ich sie sagen.

      Ich steuere auf die Pärchen zu, frage, ob sie diese Frau kürzlich gesehen haben und halte ihnen die Fotografie von Melek hin. Sie sprechen französisch mit mir. Ich sage mehrmals, dass ich nur Englisch und Deutsch verstehe, was sie mir nicht glauben, da sie immer weiter in ihrer Sprache reden. Aber das allgemeine Kopfschütteln lässt mich glauben, sie hätten Melek noch nie gesehen. Ich bin beinah beruhigt, mir wird klar, dass ich für ein Wiedersehen noch gar nicht bereit bin.

      Um halb sieben bricht die Dunkelheit so plötzlich herein, als hätte einer einen Lichtschalter umgelegt. Wilde Hunde kreuzen meinen Weg wie Banditen, die darauf bedacht sind, nicht aufzufallen.

      Ein Typ winkt mir und ruft: „Hello my brother, how are you?“

      So hat mich schon lange keiner mehr angesprochen. Wir geben uns lässig die Hand wie zwei alte Sportsfreunde. Er führt mich in sein hellerleuchtetes Geschäft, stellt mir einen Stuhl hin, auf den ich mich dankbar niederlasse, und reicht mir einen Milchtee, der sehr süß ist. Der junge Mann möchte wissen, wo ich herkomme, was ich mache, wie es in Deutschland sei, wie lange ich in Indien bleiben werde, wo ich noch überall hin möchte. Ich antworte aufgrund meiner Müdigkeit sehr einsilbig und zeige ihm die Fotografie von Melek, die er sich kurz anschaut und meint, er habe sie vor circa einer Woche das letzte Mal gesehen. Sie war mehrere Tage im Ort und kam immer wieder hier vorbei. Auf meine Nachfrage, sagt er noch, dass sie glücklich wirkte und sich viele Freunde gemacht hat. Ich kann es mir lebhaft vorstellen, ihre kontaktfreudige Art nervte mich zuweilen.

      Er erzählt, dass sein Geschäft wegen der Weltwirtschaftskrise schlecht läuft, möchte wissen, was ich über sein Ware denke. Seine Klamotten sind nicht mein Fall, über die Qualität kann ich nichts sagen, doch mir fehlt es an einer individuellen Geschäftsidee, denn sein Shop gleicht den anderen. Er weiß, was ich meine, sagt, diese Hemden und Hosen seien immer gut gegangen. Ich kaufe schließlich ein grüngraues Tuch, das einen vierarmigen Menschen mit Elefantenkopf zeigt, nachdem der Verkäufer mir erzählt hat, dass Shiva seinem Sohn Ganesha in der Wut den Kopf abgeschlagen hat, als er ihn daran hindern wollte, seine Mutter Parvati beim Baden zu stören. Kurz darauf habe es ihm leidgetan und setzte ihm einen Elefantenkopf auf.

      Diese Geschichte verstehe ich auf Anhieb. Ich überreagiere auch manchmal, rede vernichtend, und kaum ist mein Gegenüber verletzt, schäme ich mich und relativiere mein Gequatsche.

      ***

      Fünfzehn Minuten später sitze ich unter einem aus Bambus und Palmenblättern gebastelten Dach und esse Reis mit Fisch in zu scharfer Currysoße. Außer mir sind hier fünf weitere Gäste, ich vermute Israelis, die nach Beendigung ihres Militärdienstes gemeinsam Urlaub machen. Sie hocken auf Sitzkissen in der Chillout-Ecke, rauchen Shisha und spielen Karten. Ich winke dem Kellner und bestelle eine Cola, von der ich mir erhoffe, das sie gegen die Müdigkeit und das Brennen im Mund hilf. Ich frage ihn auch, ob ich den Ventilator so stellen kann, dass der Geruch von der Wasserpfeife nicht in meine Richtung zieht. Er guckt mich an, als sei ich etepetete, und vielleicht bin ich das ja auch und ein Hypochonder noch dazu. Ich erkläre ihm, dass mir der Geruch von künstlichen Aromen Übelkeit bereitet, was nicht übertrieben ist. Beinah hätte ich ihm auch noch erzählt, dass diese widerlichen Pfeifen mittlerweile auch in Köln an jeder zweiten Ecke herum stinken. Doch da hat er den Ventilator schon umgedreht und mir zugezwinkert.

      Die Schwingtür geht auf, und ein Typ mit auffälligen Koteletten und viel Gel in den Haaren kommt herein. Er spricht mit dem Personal. Ganz offensichtlich gehört ihm das Restaurant. Kurz darauf ertönt ein Song der Dire Straits, der Sänger singt: „Where do you think you are going.“ Der Schlagzeuger hält sich noch dezent zurück, lässt den beiden Gitarren ihr zärtliches Vorspiel, dann scheppert er los, das Tempo des Liebesaktes steigernd, dass ich prompt eine Gänsehaut am Kopf bekomme.

      Der Chef nimmt seinem Angestellten die Cola aus

Скачать книгу