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Mit der anderen Hand schob er mir sein Portemonnaie hinüber. »Nimm dir Geld, ich lade dich ein! Alles, was du willst, als Entschädigung sozusagen. Für mich wären ein Käsebrot und ein Bier nicht schlecht. Danke!«

      »Äh, nein?« Was sollte das denn? Er lud mich ein, aber ich sollte durch den schwankenden Zug gehen und alles holen? Ich wusste ja nicht mal, in welcher Richtung der Speisewagen lag. »Warum gehst du nicht selber? Beine vertreten und so?«

      »Wie heißt du eigentlich?«, fragte er statt einer Antwort. Jetzt lächelte er. Mit geschlossenen Lippen, hochgezogenen Augenbrauen und ein bisschen von oben herab, aber wirklich nur ein bisschen. Ich mochte dieses Lächeln viel zu sehr, es war erschreckend …

      »Wanda.«

      »Wanda. Schöner Name.«

      »Findest du?« Ich freute mich mehr über dieses Kompliment, als mir lieb war.

      Ken nickte.

      »Aber glaub mir, Wanda, es würde ziemlich langsam gehen, bis dahin wärst du verhungert, und du würdest mir echt einen Gefallen tun!« Er stützte sein Kinn auf seine Hände und endlich, endlich schaute er mir in die Augen. Ich guckte zurück, ich würde mich von Barbies Freund nicht einschüchtern … aber warum guckte er so komisch, als ob er mich gar nicht richtig … sah.

      Seine Augen. Verdammt, wie konnte ich nur so blöd sein, er sah mich wirklich nicht! Ich guckte hinunter auf Barbie und entdeckte das Hundegeschirr unter dem Tisch. Ein kleines blaues Bild war darauf, mit einem Strichmännchen, das von einem Hund geführt wurde … Es war oberpeinlich, denn ich hatte es nicht gemerkt: Superstar hier vor mir – war blind!

      Oh Gott. Ich durchforstete in aller Schnelle mein Gehirn. Hatte ich was Blödes gesagt, über das Sehen oder so? Ja klar, gleich mehrfach. Nach was sieht’s denn aus? Oder: Schau dir das an. Und: Warum gehst du nicht selber? Wie fies! Ich hatte einen Blinden aufgefordert, durch den Zug zum Speisewagen zu gehen, dabei konnte er das doch nicht! Er sah nichts, nichts! Alles war dunkel für ihn, für immer, wie schrecklich war das denn? Verlegen schaute ich zu ihm hinüber. Sah er wirklich nichts? Seine Augen wirkten doch eigentlich ganz normal und in Ordnung. Richtig schön waren sie, in diesem dunklen, außergewöhnlichen Braungrün. Ich traute mich nicht, ihn zu fragen, ich würde das Thema absolut ausklammern, um ihn nicht noch mehr zu beleidigen. Doch da begann er selber zu reden:

      »Ich sehe nichts mehr, seit ich dreizehn bin. Nur einen Rest Hell-Dunkel-Wahrnehmung habe ich noch.«

      Also hatte er früher mal gesehen, konnte sich noch an Farben erinnern und an Gesichter. »Oh, das ist bestimmt total … schlimm, oder?«

      »Am Anfang schon. Da war ich echt fertig, wollte es nicht akzeptieren, dass nun ausgerechnet ich diese Krankheit habe. Es fing an, als ich elf war, ich war im cours moyen 2, also im letzten Jahr der école élémentaire, ich bin in Paris aufgewachsen. Plötzlich konnte ich nicht mehr vorlesen, kassierte eine schlechte Note nach der anderen. Die dachten, ich mach das extra.« Er unterdrückte ein Lachen und glurkste es stattdessen durch die Nase heraus. Es klang ziemlich witzig. Nun grinste er mich an, er war so hübsch, sein Mund schön breit mit tollen weißen Zähnen drin. Es konnte nicht sein, dass er mich nicht sah, seine Augen schienen doch genau zu wissen, wo ich war!

      »Aber … also ich habe das echt nicht gemerkt.« Ich verkniff mir die Fragen, die in mir hochkamen. Und jetzt siehst du echt nichts mehr? Und wie funktioniert das mit dem Handy? Und bist du dann ganz allein unterwegs? Ich schämte mich plötzlich. Ich konnte sehen und war trotzdem aufgeregt auf dem Bahnhof herumgerannt und hatte dreimal kontrolliert, ob auch wirklich der richtige Zug vor mir stand. Wie hatte er das bloß alles geschafft? Treppen, Menschengewimmel, Bahnsteige, von denen man herunterstürzen konnte. Anzeigen, die man lesen musste, Durchsagen, die man nicht verstand. Ob jemand ihn zum Zug gebracht hatte? Ob er abgeholt wurde? Und wo war sein Stock, hatten nicht alle Blinden einen Stock? Ich sah keinen.

      Ich warf einen Blick hinüber zu dem Tisch auf der anderen Seite des Ganges. Die vier Erwachsenen waren völlig von der Welt in ihren Laptops absorbiert, niemand beachtete mich. Ich schloss die Augen. Rötliche Dunkelheit. Ich hörte den Thalys über die Gleise rattern, Barbie unter dem Tisch hecheln, am Nebentisch öffnete jemand eine Getränkedose. Und das für immer? Schnell öffnete ich die Augen wieder.

      »Ich wurde oft operiert, der Augeninnendruck war bei mir zu hoch und zerstörte langsam den Sehnerv. Immer wieder haben sie versucht, das irgendwie zu stoppen. Aber vergeblich.« Er tastete mit den Händen auf dem Tisch herum, bis er sein Handy fand. »Wo sind wir? Sind wir gerade in einen Bahnhof eingefahren?«

      »Stimmt. Wir sind langsamer geworden.«

      »Und das Licht hat sich geändert.«

      Aha? Das Licht! Das hatte ich gar nicht bemerkt. Ich reckte mich, um eins der vorbeifahrenden Schilder lesen zu können. »Aachen.« Es war mir immer noch unangenehm, ihm schräg gegenüber zu sitzen, obwohl ich ihn jetzt in aller Ruhe betrachten konnte. Das Hemd sah doch ziemlich gut an ihm aus. Konnte er ja nichts dafür, dass er die Farben nicht sah. »Und wie machst du das beim Anziehen? Also ich meine … äh … sorry.«

      »Du meinst, weil ich ja nicht sehe, was ich da in den Händen halte?« Er lachte. Er lachte sowieso ziemlich viel, obwohl er doch blind war. »Das Hemd hat mir meine Mutter genäht, sie ist Herrenschneiderin und jetzt Einkäuferin bei einem angesagten Modelabel. Off-Supply. Sagt dir das was?«

      »Nein. Ich bin nicht so drin in dem, was für Typen angesagt ist.«

      »Sieht das gut aus oder scheiße, sag mal?«

      »Ähem. Echt gut!« Wie peinlich! Ich konnte einem Blinden doch nicht sagen, dass ich seine Klamottenwahl komisch fand und die Farben echt gewöhnungsbedürftig waren.

      »Ich habe so ein Farberkennungsgerät, das sagt mir ziemlich genau, ob etwas eher hell- oder dunkelblau oder türkis ist. Bei dem Hemd war es allerdings überfordert.« Wieder grinste er so süß vor sich hin, als ob er sich wirklich amüsieren würde. Ich rutschte unruhig auf meinem Platz hin und her. Wie sollte ich die nächsten zweieinhalb Stunden nur überstehen? Er wusste ja noch nicht mal, wie ich aussah. Sollte ich mich ihm beschreiben oder wollte er mich etwa abtasten, um sich »ein Bild« von meinem Gesicht zu machen? Und wenn er mich darum bat, konnte ich ihm den Wunsch dann abschlagen? Immerhin hatte ich einen Verband in meinem Gesicht, das bei Berührungen schmerzte. Das musste als Entschuldigung reichen.

      »Ich hab das echt nicht gemerkt, dass du … dass du nicht sehen kannst«, stotterte ich wieder.

      »Du kannst auch ruhig blind sagen, haben wir nichts dagegen.«

      »Aha.« Wieder warf ich prüfende Blicke auf meine Mitreisenden. Sah irgendjemand zu uns rüber und hörte bei dieser seltsamen Szene mit? Niemand. Dem Rest der Welt war es egal, ob ich hier gerade eine peinliche Vorstellung meines Charakters gab.

      »Und du musst auch nicht mit dieser traurigen, leisen Stimme reden. Ist okay. Ist zwar manchmal echt scheiße und dann werde ich ungeduldig oder wütend oder traurig, aber längst nicht mehr so schnell wie früher. Man kann sagen, ich habe mich daran gewöhnt.«

      »Du sprichst total gut Deutsch, dafür dass du in Paris aufgewachsen bist.« Endlich ein Thema, das nichts mit Augen zu tun hatte.

      »Ich habe mit meinen Eltern zu Hause Deutsch gesprochen und bin mit dreizehn mit meiner Ma nach Deutschland zurückgegangen.«

      »Mit dreizehn? Aber da warst du doch … « Mist, schon wieder das Augenthema.

      »Genau, da war ich schon blind wie ’n Maulwurf. Nichts mehr sehen können und dann auch noch in eine Stadt wie Frankfurt ziehen, ins Haus meiner Oma … das fuckt ab. Denn in dieser Stadt ist nichts so wie in Paris – um das zu bemerken, dazu braucht man echt keine Augen!«

      Er suchte in seiner Tasche, bis er etwas gefunden hatte. Karamellbonbons, die liebte ich! Er öffnete die Tüte und hielt sie mir hin. Die Richtung war … fast richtig. Ich zog die Tüte

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