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kaum schaute er mich näher an, schon war es vorbei mit der Siezerei, dafür gab es ein gemeinschaftliches Wir. In der übergroßen Jeanslatzhose wirkte ich für ihn wahrscheinlich wie ein Kind. Ein dünnes Kind, mit einem Gegenstand im Gesicht, der da nicht unbedingt hingehörte. Pff. Ich stemmte meine Daumen gegen die Träger, diese Hosen sind jetzt in, du Otto, hätte ich ihm am liebsten gesagt. Bei der Hitze waren sie außerdem schön luftig. »Ja, ich bin sechzehn!«

      »Voilà!«

      »Merci!« Ich schnappte mir das Ticket, ratterte mit dem Rollkoffer zurück und bestieg das Abteil. Puuh. Ich atmete tief ein und aus. Hier war alles schön plüschig, samtig rot, stellte ich mit einem Blick fest. Mit letzter Kraft bugsierte ich den Koffer in das Fach vorne neben der Tür. Wenn er nun geklaut wurde? Papa würde sich aufregen. »Hast du ihn etwa nicht ständig im Blick gehabt?«, würde er fragen. Ich zuckte mit den Schultern. Erst einmal den Platz finden, die beiden Plätze besser gesagt, die Papa für mich und auch Tante Aurélie gebucht hatte. Jedenfalls konnte niemand neben mir sitzen und mich von der Seite neugierig anstarren. Wenn die Leute wenigstens nachfragen würden, aber nein, sie glotzten nur. Egal. Ich würde französische Vokabeln üben, ab und zu nach meinem Koffer schauen und meine Ruhe haben.

      Der Gang war eng, rechts und links von mir machten sich die Leute breit, verstauten ihr Gepäck in den schmalen Fächern über den Plätzen, einige packten sogar schon ihren Proviant aus. Ich suchte meine Sitznummern und blieb schließlich stehen.

      Och nee! Ein Viererplatz, mit Tisch in der Mitte. Und beide Fensterplätze belegt. Unverschämtheit, einer davon, nämlich Platz 56, gehörte mir! Auf dem saß aber ein Hund, durfte der das? Das durfte der doch gar nicht! Er war ziemlich groß mit einem dicken Kopf und Augen, die zu lachen schienen, denn er kniff sie ein bisschen zusammen. Sein Fell war kurz und hell, ungefähr die Farbe von – keine Ahnung, einem Lamm? Einem sehr großen Lamm. Und das saß da, total zufrieden, als ob es absolut dorthin gehörte. Sein Herrchen schien nichts dagegen zu haben, er schaute kurz hoch, sah mich gar nicht richtig an, sondern grinste nur nickend, dann wandte er sich wieder seinem Smartphone zu, auf dem er wie wild herumwischte.

      Ich hielt die Luft an und ließ mich zögernd neben dem Hund nieder. Der hob interessiert den Kopf und beschnupperte meine Haare, die ich, wie immer, in einem großen Knoten im Nacken trug, und dann meinen Rucksack. Wahrscheinlich roch er das letzte Salamibrot. Dass der Typ nicht merkte, wie sein Hund mich belästigte! Konnte er ja nicht, denn er hatte auch noch einen Kopfhörer im Ohr, der andere hing an seiner Schulter herunter. Ich traute mich nicht, etwas zu sagen, denn ich hatte ein bisschen Angst vor Hunden. Vor solchen großen allemal.

      Ich rettete meinen Rucksack vor dem lammfarbenen Monster, indem ich ihn auf den Boden legte, mein Kopf tat weh und ich bekam immer noch nicht gut Luft durch die Nase. Nach den drei Stunden von Bremen nun also noch drei nach Paris, die es zu überstehen galt. Reiß dich ein bisschen zusammen, hörte ich die Stimme meines Vaters. Er hatte ja recht, drei Stunden, was war das schon? Die würde ich nach dem Unfall, der OP und den blöden Tagen im Krankenhaus auch noch aushalten! Selbst neben einem unerzogenen Hund wie diesem. Und einem Gegenüber, das mich nicht mal anschaute und grellbunte Sachen trug, die er wahrscheinlich »richtig geil Achtziger« fand. Sein Hemd war nicht nur ein viel zu farbiges Durcheinander, sondern auch noch komisch weit geschnitten, und waren das etwa Hosenträger? Nicht dein Ernst, sagte ich in Gedanken zu ihm, du bist doch höchstens achtzehn. Ich war froh, dass er so sehr von seinem Handy in Anspruch genommen wurde und mich nicht beachtete, denn ich sah immer noch furchtbar aus, das wusste ich selbst. Stattdessen starrte er ausdruckslos, mit glasigen Augen in die Luft und hörte gebannt dem zu, was aus dem einzelnen Kopfhörer über sein Ohr in sein Hirn drang. Gut, er machte auf schwer beschäftigt, umso ungestörter konnte ich mich etwas strecken und ihn dabei richtig in Augenschein nehmen. Wow, sagte ich mit einem kurzen Blick zu dem Hund neben mir, dein Herrchen sieht eigentlich echt gut aus, aber das weiß er auch. Die dunklen Haare waren vorne etwas zu lang, sodass sie ihm links etwas über die Augen hingen, aber ziemlich cool geschnitten, wie frisch vom Friseur gestylt, damit es aussah wie absolut nicht gestylt. Schöner Mund, gerade Nase und irgendwie sehr selbstbewusst. Sogar das blöde Hemd passte perfekt zu ihm, musste ich zugeben. Ist der ein Schauspieler oder Sänger oder so was? Sag doch mal! Der Hund sah immer noch so aus, als ob er lachte. Ihm war zu heiß, er hechelte, hatte die Vorderpfoten brav nebeneinander auf dem roten Polster und schaute nun weg von mir, aus dem Fenster, denn der Zug setzte sich in Bewegung.

      Das Tier war also keine Hilfe. Und ich hatte keine Ahnung von Stars, denn ich war schon ewig nicht mehr im Kino gewesen, ich sah keine Serien und kannte mich überhaupt nicht mit YouTubern aus, ich hörte zwar oft Musik, ging aber nicht in Konzerte. Und gut aussehende Jungs kannte ich auch nicht näher. Warum nicht? Nicht weil es mich nicht interessierte, oh doch, ich hatte nur einfach keine Zeit!

      Ich rutschte vor und zurück auf meinem Platz. Meine Beine sehnten sich danach, gedehnt zu werden. Es war ein dringendes Bedürfnis, wie bei manchen Menschen, die von Zeit zu Zeit mit den Fingergelenken knacken mussten. Hier im Zugabteil konnte ich dem aber nicht wirklich nachgeben. Hyperflexibilität nannte man das; Bänder und Gelenke waren bei mir viel beweglicher als bei normalen Menschen. Für meinen Sport war das natürlich superpraktisch. Ich streckte das rechte Bein aus und ließ es so weit wie möglich über den Gang grätschen. Die Leute vom Nebentisch merkten nichts, die hatten sich allesamt hinter Laptops und Kopfhörern verschanzt. Ich zog das Bein wieder heran und verbot mir, es hochschnellen und neben mir in die Höhe wippen zu lassen. Etwas, was ich gerne zu Hause auf dem Sofa tat, wenn ich dort saß, um Vokabeln zu lernen. Schon komisch, Wanda, sagte ich mir. Hier könnte der absolute Promi vor dir sitzen, der ein normales Mädchen zum Kreischen oder Hyperventilieren bringt, du würdest ihn nicht erkennen.

      Vielleicht kommt das daher, dass du die letzten fünf Jahre mit deinem Vater in hübschen Turnhallen verbracht hast. In allen Stadtteilen von Bremen, wirklich allen … in Stuttgart, in Berlin, Düsseldorf, Leverkusen. Ich nickte vor mich hin. Ich war schon auf Turnieren in Polen, Wettkämpfen in Italien, ja sogar in Sofia, Madrid und Moskau gewesen! Aber so alleine wie heute war ich noch nie gereist, und das alles nur, weil ich …

      Eine Durchsage aus den Lautsprechern riss mich aus meinen Gedanken. Der Zugchef begrüßte uns auf unserer Fahrt nach Paris. Dann wiederholte er alles noch mal auf Französisch, danach auf etwas, was wohl Flämisch sein sollte. Verstohlen sah ich hinüber zum Superstar, so hatte ich ihn getauft. Immerhin, mit seinem Handy war er fertig, nun legte er es vor sich auf den Tisch und ordnete ein paar Sachen darum. Eine Butterbrotdose, eine zusammengedrehte, lederne Hundeleine, eine kleine Schachtel, vermutlich für die Kopfhörer. Er hörte interessiert der Durchsage zu und er schien gerne Ordnung zu haben, denn er rückte die Dinge dabei mehrfach hin und her, wie so ein alter, tattriger Mann. Ich konnte gar nicht hinschauen, es war irgendwie peinlich.

      »Lädies änd dschentel-män«, begann der Zugführer seinen ewig gleichen Text nun auf Englisch. Ich betastete mein Gesicht. Unter den Augen war es immer noch angeschwollen und in der Mitte prangte dieser auffällige weiße Buckel, dennoch wagte ich es, dem Superstar schräg gegenüber für eine Sekunde zuzulächeln, als er zu mir herüberschaute. Dschentel-män klang witzig, hatte er das nicht gehört? Doch Superstar sah mich zwar flüchtig an, reagierte aber nicht. Kein Lächeln, kein freundliches Schulterzucken. Na, dann eben nicht. Blöder Angeber, dachte ich. Sei bloß froh, dass ich nichts sage, dein Hund darf hier eigentlich gar nicht sitzen. Wenn der Thalys-Schaffner das sieht … Aha, kaum brauchte man ihn, kam der Schaffner auch schon durch den Gang. Und richtig, erst wollte er in seiner Uniform an uns vorbeieilen, doch dann stoppte er scharf seinen federnden Gang ab. Ich schaute unbeteiligt zu Boden, garantiert würde der Beamte sich nun über den Hund aufregen.

      »Wenn Sie … wenn Sie etwas trinken wollen …«, sagte er zu meinem Gegenüber. »Einen Kaffee oder so? Melden Sie sich, ja? Ich bringe Ihnen gerne was!«

      Ich schüttelte unmerklich den Kopf und verschränkte die Arme vor meinem Körper. Ich hatte es gewusst, er war ein Promi, eingebildet und berühmt, für was auch immer, und konnte sich alles erlauben!

      Doch Superstar schüttelte den Kopf und sah zu dem Schaffner hoch: »Danke! Aber den hole ich mir auch gerne selber. Beine vertreten und so …«

      Ich

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