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beeindruckte Joko an allen Sonntagen, die er Helga zur Messe begleitete, die Schulfreundin Annegret, eine sehr hübsche, frühreife und etwas ordinäre Freundin, die sich gerne ansprechen und einladen ließ und es offenkundig nie lang mit einem Freund aushielt. Ihre Hotpants waren aber auch geradezu eine Aufforderung, sie anzufassen und zärtlich zu kneifen, was sie sich meist auch gerne gefallen ließ. Joko hatte nie verstanden, wie sich zwei so unterschiedliche Mädchen so eng anfreunden konnten. Annegret liebte die Männer und ließ sich von ihnen gerne anfassen, später wuchs bei Joko der Verdacht, dass sie dafür auch Geld nahm. Er konnte seine Helga so oft wie nur denkbar in die Messe begleiten, über Küsse auf den schönen Busen kam er nicht hinaus. Annegret hätte ihm sicher mehr erlaubt, aber er fürchtete beste Freundinnen und ihre Neigung zu Tratsch und Klatsch.

      Bis Essen-Bergerhausen brauchte Joko eine halbe Stunde, gerade lange genug, sich eine halbwegs überzeugende Ausrede dafür einfallen zu lassen, dass ein Grauhaariger mit beginnender Glatze eine früher einmal blonde Gleichaltrige suchte, die er schon vor vierzig Jahren aus den Augen verloren hatte.

      Das Haus in der Richard-Wenger-Straße erkannte er sofort wieder, holte tief Luft und klingelte parterre bei Schulte. Die energische Frau, die an die Wohnungstür kam, war viel zu jung, um etwas zu wissen. Trotzdem spulte er sein Märchen herunter. „Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung, mein Name ist Bernd Jokisch und ich suche in einer Erbschaftsangelegenheit eine Helga Schmied, die einmal in diesem Haus gewohnt hat.“

      „Wann hat sie denn hier gewohnt?“

      „Als letztes gesichertes Datum habe ich den August 1961.“

      „Tut mir leid, wir wohnen erst seit 2000 hier.“

      „Dann danke ich für ihre Hilfe und Entschuldigung für die Störung.“

      „Bitte, bitte.“

      Gegenüber kam ein grauhaariger Mann an die Tür gehumpelt, hörte sich Jokos Märchen geduldig an und musste passen: „Ob und bis wann hier eine Familie Schmied gewohnt hat, weiß ich leider nicht.“

      „Pech.“

      „Hat sie was geerbt?“

      „Unter Umständen sogar einen ganzen Batzen.“

      „Wenn Sie das Geld nicht loswerden, sind Sie herzlich eingeladen, mit dem Zaster wiederzukommen. Ein Kräuterschnäpschen gefällig?“

      „Vielen Dank, nein, ich will noch meine Runde durch das Haus machen. Und da rieche ich besser nicht nach Alkohol.“

      „Ganz, wie Sie meinen.“

      Im ganzen Haus zog er nur Nieten.

      Doch Joko war zäh, wenn er sich etwas vorgenommen hatte, schließlich hatte er noch zwei Asse in der Hinterhand. Das Erste war die Apotheke in der Mellinghauser Straße, in der sie nach dem Abi und vor Semesterbeginn gearbeitet hatte. Der Name hatte ihn schon damals amüsiert, ein Raubvogel, Adler, Falke oder Habicht oder so. Er lief die Richard-Wenger-Straße bis zur Kreuzung mit der Mellinghauser Straße und konnte von dort das Apothekenschild lesen, „Sperberapotheke.“ Apothekenpreise und Raubvögel passten irgendwie schon zueinander. Joko sprach kurz vor der Mittagspause die älteste Mitarbeiterin an, die sich aber an eine Helga Schmied nicht erinnern konnte. Also musste er seinen letzten Joker ausspielen.

      Er hatte sie vor dem Abi ab und zu mit dem Auto in der Kurfürstenstraße abgeholt, aber das Viktoria-Gymnasium gab es nicht mehr, an der verriegelten und verrammelten Tür des alten Gebäudes baumelte nur ein Schild. „Das Viktoria-Gymnasium ist geschlossen, Auskünfte und Anfragen werktags von neun bis zwölf Uhr unter der Nummer …“

      Das war nun echtes Pech, aber noch wollte Joko nicht aufgeben. Wie hatte diese Annegret noch geheißen? Blume, Blüte, Strauss, Rosen, nein, Stengel. Und Google half ihm, in der Sibyllastraße gab es einen Imbiss S. Stengel. Dort in der Straße hatte Annegret Stengel gewohnt, direkte Nachbarin von Rommenhöller-Kohlensäure. Imbiss klang nicht schlecht, er aß gerne frische Reibekuchen und hatte viele seiner Dienstreisen ins Ruhrgebiet auch nach Imbissen mit frischen Reibekuchen geplant. Sie schmeckten nur richtig, wenn man sie stehend im Freien aß und sich an den noch nicht ausgekühlten Reibeplätzchen Finger, Lippen und Zunge verbrannte. Nur Weicheier nahmen zur Kühlung Apfelmus statt Bier. Ob es bei Annegret diese Köstlichkeiten gab? Einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Und etwas anderes hatte er für heute nicht vor. Gelegentlich packte ihn schon mal die Rentnerkrankheit Langeweile.

      Joko hätte sie auf der Straße nicht wiedererkannt, sie war erschreckend alt geworden und von ihrer leicht ordinären, aber verführerischen Attraktivität war nichts mehr geblieben. Er betrat den Imbiss und sah sich um. Die Frau hinter dem Tresen schaute nach seinem lauten „Guten Tag“ hoch, zögerte und fragte endlich unsicher: „Joko?“

      Wenn sie seinen alten Spitznamen nicht benutzt hätte, hätte er sie nicht erkannt.

      „Ja. Stengelchen?“

      „Genau. Was treibt dich in diese Gegend?“

      „Erinnerungen, ich habe im Fernsehen den brennenden Turm von St. Hubertus gesehen. Jetzt wollte ich mir mal die Gegend ansehen und nach alten Bekannten und Freunden schauen.“

      „Seit sie diese blöde Autobahn gebaut haben, hat sich das Viertel schwer verändert. Wer konnte, ist weggezogen.“

      „Aber du bist geblieben.“

      „Notgedrungen, dieser Bau ist alles, was uns noch geblieben ist. Den Rest hat mein Vater versoffen und verzockt.“

      „Und was ist mit deiner Mutter?“

      „Die hat schon vor zehn Jahren Selbstmord begangen.“

      „Das tut mir leid, Stengelchen.“

      „Besser, als wenn sie das ganze Elend hier noch erlebt hätte.“

      „Hm.“

      „Und wie ist es dir ergangen?“

      „Ganz ordentlich. Ich konnte mich früher zur Ruhe setzen und lebe jetzt in Herdecke mit zwei Seen quasi vor der Haustür. Dem Hengstey- und dem Harkortsee. Vielleicht lerne ich noch mal segeln. Und wenn ich einen größeren Schritt über einen winzigen Bach mache, bin ich in der Nachbarstadt Wetter. Mir geht’s eigentlich sehr ordentlich, und jetzt habe ich Hunger. Ich bin schon den ganzen Vormittag unterwegs auf der Suche nach Helga Schmied. Habt ihr beiden noch Kontakt?“

      „Nein. Sie ist schon vor Jahren weggezogen.“

      „Und in welcher Apotheke hat sie gearbeitet?“

      „Wieso Apotheke?“

      „Sie wollte doch Pharmazie studieren.“

      Annegret zog verächtlich die Nase hoch: „Studieren? Dass ich nicht lache. Sie wollte einen weißen Kittel tragen, mehr nicht. Das Studium hat sie schon nach der ersten nicht bestandenen Zwischenprüfung aufgegeben und hat lieber geheiratet.“

      „Und wen? Fragte er gleichmütig. Die angeblich so dicke Freundschaft hatte also nicht lange gehalten.

      „Du kennst ihn doch.“

      „Wen?“

      „Deinen Nachfolger. Carsten Steinfeld.“

      „Nein, kenne ich nicht.“

      „Das ging ruckzuck. Du warst gerade am Horizont verschwunden, da hatte sie sich schon den Steinfeld geangelt. Der war älter und verdiente schon gut. Kann ich dir was zu essen anbieten?“

      „Was hättest du denn?“

      „Hausgemachte Erbsensuppe mit Rauchspeck.

      „Klingt gut. Nehme ich gerne.“

      Er war der einzige Gast im Imbiss. Das Geschäft lief sichtlich nicht gut. Aber so konnten sie sich ungestört unterhalten.

      Seine Helga musste Steinfeld gut ein Jahr nach dem Abi geheiratet haben. Carsten Steinfeld war fast zehn Jahre älter und arbeitete als Verfahrenstechniker bei Edelstahl Witten. Das Paar war nach

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