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wegen eines anderen Termins nicht teilnehmen – wir sind also unter uns. Wenn es euch recht ist, ziehen wir gleich eine Tür weiter. Es ist kurz vor acht und ich kann meinen Aperitif auch im Restaurant nehmen – und ich gehe davon aus, ihr werdet mir dabei gerne Gesellschaft leisten. Die leeren Gläser vor euch geben zumindest zu dieser Vermutung Anlass.«

      Sie begrüßten Marco herzlich und folgten seinem Vorschlag umgehend, erhoben sich und nahmen eine ausgesprochen vergnügte Stimmung mit in den weiteren Abend.

      Rebecca lachte kurz laut auf und erheiterte sie mit ihrer Erklärung: »Jetzt wollte ich fast schon wieder den Kellner um die Rechnung bitten, ich bin das hier noch immer nicht gewohnt!«

      Wie überall im UNTACH entfiel das Bezahlen, da alles bargeldlos gebucht wurde. Die Bedienungen mussten ihre kleinen Service-Geräte beim Servieren nur in die Nähe der Rolix des jeweiligen Gastes halten und die Kunden die Zahlung durch einen Fingerabdruck bestätigen, schon war alles erledigt. Ein ausgesprochen einfaches System, das nicht nur für beide Seiten angenehm und schnell war, sondern auch den Umsatz entsprechend ankurbelte. Nicht wenige UNTACH-Bewohner fielen regelmäßig aus allen Wolken, wenn sie von Zeit zu Zeit ihren Kontostand online abfragten, denn diese bequeme Regelung verleitete so manchen zu eher großzügigen Bestellungen.

      Eine Trennung zwischen dienstlichen oder privaten Zahlungen erfolgte automatisch, jeweils nach der persönlichen Konfiguration der Rolix. So gaben die Buchungsparameter im Team von Marco Renke vor, dass alkoholfreie Getränke sowie Speisen in den normalen Restaurants und Kantinen bis zu einer gewissen monatlichen Obergrenze aufs Projektkonto gebucht wurden, wie auch fast alle Freizeitangebote. Nur alkoholische Getränke und Rechnungen in den Restaurants der Spitzengastronomie sowie Einkäufe in den Geschäften der großen Shopping Mall und andere private Ausgaben wurden den Privatkonten seiner Mitarbeiter belastet.

      Beim fröhlichen Verlassen der Bar ging Frank wieder voraus und die anderen folgten in der breiten Schneise, die er sanft, aber doch recht ungebremst in die dichtgedrängt stehenden Barbesucher bis zum Ausgang pflügte. Wenige Minuten später betraten sie den Eingangsbereich des elitären Science Club, wo sie eine ganz andere, gediegene und durch leise Piano-Musik untermalte Atmosphäre erwartete.

       Ein langes Dinner

      Der Empfangschef, der Marco wie einen Stammgast begrüßte, geleitete sie zu einem kleinen, runden Nebenraum, den Claudia vorsorglich gebucht hatte. So waren sie ungestört für die Gespräche, die an diesem Abend anstanden. Als sich wenig später der Kellner nach Aushändigung der großformatigen Menükarte und Servieren des Begrüßungs-Champagners zurückzog, übernahm Marco routiniert seine Rolle als Gastgeber.

      »Also, liebe Freunde – wenn ihr mir gestattet, das so zu sagen – ich freue mich wirklich, mit euch heute Abend zusammen zu sein! Ich finde, wir sind ein tolles Team! Darauf möchte ich mit euch anstoßen – auf uns und unsere gemeinsame Arbeit!«

      Es ging in der harmonischen, euphorischen Stimmung weiter, deren Grundstein bereits in Rick´s Cafe gelegt worden war.

      »Aber ›first things first‹! Ich möchte euer Augenmerk auf das Degustationsmenü auf der ersten Seite lenken. Gerne mit den korrespondierenden Weinen, denn der Sommelier hier im Club ist ähnlich begnadet wie der Küchenchef. Wenn ihr einverstanden seid, wäre das eine passende Begleitung für die Informationen, die ich euch gerne mitteilen möchte. Sicher habt ihr viele Fragen an mich, die euch seit dem Meeting heute Nachmittag auf der Seele brennen. Aber jetzt studieren wir erst mal angemessen die Karte!«

      Alle schmunzelten vergnügt vor sich hin, während sie lebhaft mögliche Alternativen zu manchen Gängen diskutierten. Die Heiterkeit bezog sich nicht nur auf die Aussicht auf ein göttliches Abendessen: Grund waren auch die Erinnerungen, die jeder einzelne von ihnen an frühere Treffen mit Marco hatte, bei den Bewerbungsgesprächen und anderen Anlässen vor ihrem Arbeitsbeginn in Peking. Seine Begeisterung, aber auch Fachkenntnis hinsichtlich exzellenter Speisen und Getränke war beeindruckend, und qualitätsvoll zu essen und zu trinken war ihm wichtig. Dass ihr Chef sie in diese genussreiche Facette seiner Lebensart so herzlich einschloss, machte ihn neben anderen Wesenszügen einfach liebenswert.

      Natürlich nahmen sie seinen Vorschlag sehr gerne an und als der Kellner zurückkam, wurde durch Marco das teilweise individuell leicht abgeänderte große Abendmenü bestellt. Wobei er einen zusätzlichen Hinweis gab: »Ach, Vincent, und lassen Sie uns bitte zwischen den einzelnen Gängen jeweils etwa eine Viertelstunde Verschnaufpause. Wir haben verschiedene Dinge zu besprechen und obwohl ich diese für recht interessant halte, soll unser Arbeitsgespräch auf keinen Fall unsere Konzentration auf die Köstlichkeiten des Menüs beeinträchtigen. Was nicht heißen soll, dass wir beim Sprechen nicht an gefüllten Gläsern nippen könnten. Also gerne nachschenken!«

      Es versprach also nicht nur ein schöner, spannender Abend zu werden, sondern auch ein sehr langer, beschwingter. Das war seinen Mitarbeitern nun klar, aber keineswegs unangenehm.

      Nach dem Amuse Gueule startete Marco sofort mit jenem Thema, das er ihnen am Nachmittag versprochen hatte: die Herkunft der Schatulle und ihren Inhalt.

      »Ihr seid vermutlich davon ausgegangen, auch du, Tomomi, dass dieses ominöse Konvolut zusammen mit dem Netsuke im UNTACH-Archiv vorhanden war. Das ist nicht der Fall. Ich habe diese Schatulle vor drei Monaten in London privat erworben und – als Arbeitsunterlagen deklariert – mit meinem persönlichen Umzugsgut mitgebracht, ohne es dezidiert als Dokumentation zum Masanao-Netsuke anzugeben. Der Inhalt ist weder inventarisiert noch in der Dokumentendatenbank des UNTACH erfasst. Später werdet ihr verstehen, warum.«

      Er beobachtete die Reaktionen auf diese Mitteilung genau und insbesondere bei Frank entging ihm die kleine Verstimmung in dessen Zügen nicht. »Frank, wir beide hatten uns in Shanghai vor meinem Umzug nach Peking getroffen, also nachdem ich die Schatulle schon hatte. Ich kann gut verstehen, wenn du dich etwas wunderst, ja vielleicht sogar ärgerst, weil ich diese Sache damals nicht erwähnte. Der Grund hierfür war, dass ich die Dokumente vor dem Kauf nur flüchtig in Augenschein nehmen konnte. Ich war mir nicht sicher, ob eine Verbindung zu unserem Netsuke besteht oder das ein dummer Zufall war. Deshalb wollte ich gesicherte Ergebnisse abwarten und hatte später Tomomi gebeten, dies vertraulich zu behandeln. Aber der Reihe nach: Im Jahr 2015, also vor wirklich langer Zeit, arbeitete ich vier Monate lang im Mainfränkischen Museum in Würzburg an einem Projekt. Nebenbei nahm ich von einem Auktionshaus dort einen Beratungsauftrag an. Inhalt war die Bewertung eines Nachlasses, zu dem eine Sammlung afrikanischer und asiatischer Elfenbeinobjekte gehörte. Das war damals rasch erledigt. Aber als ich schon fast auf dem Sprung nach draußen war, bat man mich, mir noch kurz etwas anderes anzusehen. Da das Honorar ganz gut war, sagte ich gerne zu. Kurz danach stellte man genau jene Schatulle vor mir auf den Tisch, über die wir nun sprechen. Vor einundzwanzig Jahren in Würzburg sah ich sie also zum ersten Mal.

      Das Stück stammte aus einer anderen Nachlassauktion. Im Katalog stand ›Konvolut aus einer reich beschnitzten Edelholzschatulle mit Bein- und Perlmutt-Intarsien, siebzehn kleinen Sammlungsobjekten sowie vierundzwanzig Dokumenten unbekannter Provenienz‹. Da das Objekt keinen Interessenten gefunden hatte, war es im Fundus des Auktionshauses verschwunden, sollte aber neu angeboten werden.

      Ich klappte damals das Behältnis eher uninteressiert auf, blätterte einige der Dokumente durch und fand nichts, was meine Aufmerksamkeit erregte. Da war eine, wie ich meinte, mehrseitige Abschrift aus einem Abenteuerroman, der in der Südsee spielte und mich an Robinson Crusoe erinnerte. Dann gab es ein paar Seiten über eine Elefantenjagd in Afrika, ein paar Tabellen und Aufzählungen in chinesischen und japanischen Schriftzeichen sowie kürzere Texte und Listen in arabischer Schrift. Ich fand ein Blatt, das wie eine Kopie aus dem japanischen Nachschlagewerk Soken Kisho aussah, aber stark vergilbt war. Nur den Namen Masanao konnte ich entziffern, er fiel mir ins Auge, weil er unterstrichen war. Im mittleren Fach war ein durchsichtiges Kunststoffkästchen integriert, das man aufklappen konnte und in dem sich die Hohlform einer kleinen Figur erkennen ließ, die aber fehlte. Die Rückseite dieser Hohlform hatte eine Oberflächenstruktur wie ein Federkleid, also war vielleicht dort einmal ein kleiner Vogelbalg oder eine Vogelfigur aufbewahrt worden. Mein Eindruck damals war, dass hier eine an sich recht schöne Holzschatulle von irgendjemand benutzt worden war, um einige persönliche

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