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sagte sie. «Jetzt hält einer noch eine Rede.»

      Sie zündete eine Zigarette an. «Mal verschnaufen», sagte sie. «Budmiger schreit bereits den ganzen Morgen in der Küche herum und steht allen im Weg. Gut, dass ich nicht jeden Tag hier arbeiten muss.» Sie war nur zur Aushilfe da, eine Frau auf die Fünfzig zu, das Gesicht voller Sommersprossen.

      Sie und der Vater erzählten mir, was an der letztjährigen Generalversammlung vorgefallen war. Die Versammlung sei letztes Jahr noch oben im grossen Saal abgehalten worden, nicht wie dieses Jahr unten in der Wirtsstube und im hinteren Sälchen. Doch, gegessen habe man immer unten, sozusagen der lustige zweite Teil; aber Geschäftsbericht, Reden et cetera hätten letztes Jahr wie alle die Jahre vorher oben im Saal stattgefunden. Und da sei’s eben passiert. Als nach Abschluss des seriösen Teils sich alle zur Tür gedrängt, um möglichst rasch unten an die gedeckten Tische zu kommen, sei die Laube eingestürzt. Sie hätten den Schinken gerochen, sagte der Vater. Der Ansturm sei für die morschen Balken zuviel gewesen. Nein, runtergefallen sei niemand, das nicht. Man habe das Schwanken der Laube rechtzeitig gemerkt. Aber gut die Hälfte der Leute habe durchs Fenster eine Leiter hinuntersteigen müssen, um zu ihrer Berner Platte zu kommen.

      «Und was gibt’s heute?» fragte der Vater.

      «Kannst zweimal raten», sagte die Frau.

      «Mit Sauerkraut?»

      «Natürlich mit Sauerkraut.»

      Wann genau ist das gewesen? Nicht der Laubeneinsturz, sondern jenes Gespräch in der Gartenwirtschaft, als sie mir zweistimmig darüber berichteten, die Frau mit den Sommersprossen im Gesicht und der Vater. Beide rauchten. Sie hatte sich eine Strickjacke übergezogen und behielt die Hintertür des «Löwen» im Auge. Draussen sass ausser uns niemand. Der Vater hatte Kaffee mit Schnaps bestellt, die Frau hatte die beiden Gläser gebracht, sich später zu uns gesetzt. April wird’s gewesen sein. Grasspitzen kamen erst spärlich aus dem wüsten Boden. Die Kastanienbäume und Linden waren kahl. Der Vater trug die graue Mütze, unter dem Kittel einen dicken Pullover. Wir sassen an der Sonne. Kein Wind ging. Ein Samstagmittag im April muss es gewesen sein.

      «So, ich sollte wohl wieder», sagte die Frau, die Zigarette ausdrückend. «Kann ich noch etwas bringen?» «Zwei Kaffee mit Kirsch», sagte der Vater. Und zu mir herüber: «Du nimmst doch auch noch einen, oder?»

      «Kaffee machen sie nämlich guten hier», fügte er hinzu, als die Frau gegangen war. «Sonst …», er stiess Luft durch die Nase aus, «ich frag’ mich, warum die Leute hierher zu einem Essen kommen. Wenn Frau Budmiger nicht wäre, wär’ die Kneipe längst eingegangen.»

      Abgelegen; verlottert. Nicht nur die Laube sei morsch, sagte er, der ganze Kasten sei baufällig. Sporadisch werde am Dach rumgeflickt. Und auch da sei es die Wirtin, welche die Handwerker organisiere und nach dem Rechten sehe. Der Mann schwätze nur; spaziere mit seinem Glas Roten in der Wirtsstube herum und quatsche die Leute an. Falls überhaupt Leute vorhanden seien.

      Die Blechtische, abblätternde Farbe. Stühle mit einem Geflecht aus Plastikschnur. Die Sonne blendete. Stimmen, Servierlärm aus dem Haus herüber.

      Hühner standen umher; setzten – pickend nach irgendwas – Fuss vor Fuss, bewegten ruckartig den Kopf; schauten mit Knopfaugen schräg herauf. Das Schattenmuster der Bäume auf dem Boden.

      Breit der Vater am Tisch. Mütze in die Stirn gezogen. Die Hand neben dem halb vollen Glas; eine kleine, kräftige Hand.

      Wie es mit der Wunde am Rücken stehe, hatte ich mich gleich am Anfang erkundigt. «Sie heilt», hatte er gesagt, mürrisch. «Dafür hat’s jetzt drei Knubbel gegeben grad daneben.»

      Er hatte kein Interesse gezeigt, darüber zu reden. Wichtig sei nur, dass er endlich wieder etwas unternehmen könne. Am Montag hole ihn Estermann im Altersheim ab.

      Es war nicht Estermanns Idee, es war seine eigene Idee gewesen. Und einen kleinen Brunnen dieser Art hatte er bereits letzten Sommer hergestellt; im Garten eines Einfamilienhauses, das Estermann gebaut.

      Er erklärte mir die Arbeit. Aus vielen einzelnen Steinen – alles Fräsabfall aus der Spätigrube – füge er den Brunnen zusammen. Er haue die Steine zurecht; der Maurer betoniere den Sockel, mit Armierungseisen darin; auf diesen Sockel würden aus den vorgehauenen Steinen die vier Wände gemauert, zuletzt innen der Boden und die Wände mit Zementmörtel verputzt.

      Ob ein solcher Brunnen denn dicht sei, fragte ich.

      Der Vater zog die Mundwinkel herunter: «Ich bin Steinhauer – für alles übrige ist der Maurer da. Glaube zwar kaum, dass der Trog rinnen wird. Wenn er’s macht, wie ich’s ihm sage. Guten Rat geben kann man ja.»

      Und nach einer Pause:

      «Einen Brunnen aus solidem Stein, aus einem ganzen Block gehauen, das kann sich heute niemand mehr leisten. Abfallmaterial dagegen ist billig. Dem Estermann rentiert’s. Ich bekomme nur ein Taschengeld, zwei Franken pro Stunde haben wir abgemacht. Macht nichts. So hab’ ich was zu tun. Und bin den ganzen Tag weg hier!»

      Einige Leute kamen heraus, um sich an der Sonne die Beine zu vertreten. Die Männer trugen Krawatten, die Frauen Jackenkleider. Geplauder, Lachen, hochhackiges Gestakse über den Kies. Stumpen wurden angezündet.

      Der Vater grüsste zu verschiedenen Malen, wurde wiedergegrüsst. Er sagte mir, wer die Leute waren. Dem einen hatte er vor Jahren ein paar Treppentritte geflickt, einem anderen Steine zu einer Gartenmauer gemeisselt. Der Vater erinnerte sich daran, wo es Schinken, wo es Servela, wo es nichts zum Imbiss gegeben.

      Er fuhr sich über den Stoppelbart. «Heute rasiere ich mich», sagte er. «Einmal in der Woche genügt, oder?»

      Er bestand darauf, den Kaffee zu bezahlen. Und bevor wir uns erhoben, packte er sich die überzähligen Zuckerstücke in den Kittelsack. «Für Naef. Der hat alles Süsse so gern.»

       3Mai:Spitzeisen – Besuche

      Andere leiden darunter, arbeitslos zu sein. Wer nicht arbeitet, ist nichts. Sie sagen’s zwar nicht so direkt, weder jene, die Arbeit haben, noch die, welche ohne sind. Vielleicht denken sie’s nicht einmal. Trotzdem: man benimmt sich, als würde es einem gesagt – als würde man’s selber denken.

      Andere? Man? Diese und jene?

      Fast kam’s mir gelegen, dass ich nun jeden zweiten Tag zum Spital hinaufgehen musste, um dort den Vater zu treffen. Es wäre nicht nötig gewesen. Er hätte den Weg von der Bushaltestelle hinüber ins Untergeschoss auch allein gefunden.

      Eine Sommerjacke, hellbeige, mit zwei Brusttaschen, zwei Seitentaschen, dazu Innentaschen links und rechts, Reissverschluss. Turnschuhe, hellbeige ebenfalls, mit dicken Sohlen, vorn und hinten roten Gummikappen.

      «Muss heute nachmittag hin», sagte er. «Um drei muss ich dort sein. Da, schau, alles steht drauf.» Er streckte mir das Kuvert entgegen.

      Er sei früh mit dem ersten Postauto gekommen. Er habe im Bahnhofbuffet einen schwarzen Tee getrunken, zwei Gipfel gegessen. Er habe gedacht, bei dieser Gelegenheit könne er gerade neue Schuhe kaufen bei Bretscher neben dem Bahnhof. Dort habe er schon die letzten Schuhe gekauft, dort kaufe er seine Schuhe und Kleider immer. Aber sie hätten nicht mehr die gleichen Schuhe gehabt wie letztes Jahr; mit denen, die er letztes Jahr gekauft, sei er zufrieden gewesen, habe sie die ganze Zeit über getragen. Nun werde diese Sorte leider nicht mehr geführt.

      «So hab’ ich halt die da genommen.» Er rückte mit dem Stuhl vom Tisch weg und hielt den einen Fuss mit dem Turnschuh daran in die Höhe. «Und eine neue Jacke hab’ ich auch gekauft.» Lächelnd lehnte er sich zurück. «Hab’ alles grad angezogen. Den alten Kittel und die alten Schuhe hab’ ich hier in die Plastiktasche gepackt.»

      «Sommerlich siehst du aus», sagte ich.

      «Gelt. Man muss mit der Mode gehen.»

      Ich holte in der Küche eine Flasche Bier und Gläser.

      «Dawider hab’ ich nichts», sagte er.

      Ich las den Brief.

      Doktor

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