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Die Dirigentin. Maria Peters
Читать онлайн.Название Die Dirigentin
Год выпуска 0
isbn 9783455010114
Автор произведения Maria Peters
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Ich ergreife die raue Hand des Bettlers und schiebe einige Scheine hinein, sage ihm, er solle sie gut verstecken. Er bedankt sich und wünscht mir, dass Gott mich segnen möge. Eigentlich finde ich es widerlich, wenn Leute pausenlos Gott in ihre Angelegenheiten verwickeln, aber diesmal halte ich den Mund. Vielleicht ist es ja wirklich an der Zeit, dass er mal seinen Job macht. Ich werde es ja sehen.
Bei jedem Schritt nach oben wehen Staubwolken auf. Jeder Mieter kümmert sich um seine eigene Wohnung, aber für die Treppe fühlt sich keiner verantwortlich. Niemand will etwas für die Allgemeinheit tun, deshalb bildet der Schmutz Nester auf den Stufen.
So ist es nicht immer gewesen, aber so wird es wohl immer bleiben.
Das ist einer der Gründe, warum meine Mutter jeden Cent auf die Seite legt, um auf ein eigenes Haus zu sparen. Wir Holländer gelten hier als fleißig und reinlich, und so hat meine Mutter jahrelang das Treppenhaus geschrubbt. Die anderen Bewohner wussten das zu Anfang durchaus zu schätzen und bedankten sich, im Laufe der Zeit nahmen sie ihr Gewiener jedoch als selbstverständlich hin. Bis es ihr eines Tages reichte. Sie kippte den Mülleimer auf der frisch geputzten Treppe aus und sagte: »Dann eben so!« Sie zog die Schürze aus, schlüpfte in ihre Jacke und schritt wie eine Königin über den Abfall nach draußen. In Augenblicken wie diesen ist meine Mutter auch einmal ein echtes Vorbild.
Als Erstes fällt mein Blick auf die Zwiebeln, die auf der Anrichte liegen. Ich weiß sofort, was die Stunde geschlagen hat.
»Schweren Tag gehabt?«, fragt meine Mutter, als sie mich sieht.
Offensichtlich noch nicht schwer genug.
»War in Ordnung«, höre ich mich sagen. Ich reibe ihr nicht unter die Nase, dass ich gleich zweimal gefeuert worden bin. Das muss ich erst einmal selbst verarbeiten.
Sie reicht mir das Messer, mit dem sie gerade die erste Zwiebel geschnitten hat. »Mach das schnell fertig.«
Ich sehe, dass noch sechs daliegen.
Ich versuche, nicht zu weinen. Das Messer hebt und senkt sich rhythmisch. Die Zwiebelwürfel fallen auf das Brett. Ich muss auf meine Finger aufpassen, denn ich sehe kaum noch was. Aber immer noch mehr als der Bettler, schießt es mir durch den Kopf.
Mein Ekel vor Zwiebeln rührt noch aus der Zeit der Überfahrt nach Amerika, die ich als Kind zusammen mit meiner Mutter unternahm. Vater war schon dort, um einige Dinge zu regeln. Auf dem Schiff aßen wir im Speisesaal, und eines Tages servierte man dort schleimige Zwiebeln in etwas, das wahrscheinlich ein Haschee hätte werden sollen. Ich starrte auf die Matsche auf meinem Teller und weigerte mich, sie zu essen.
Aber nicht mit meiner Mutter: Der Teller musste leer gegessen werden. Sie zwang mich, das Zeug hinunterzuschlucken, indem sie meine Nase zukniff und mir den Löffel in den Mund schob. Ich würgte, aber wenn eine Schlacht zu schlagen ist, gibt meine Mutter nicht so schnell auf. Wenig später musste ich mich erbrechen. Quer über den Tisch, sodass es jeder mitbekam. Es stank unglaublich. Die Menschen um uns herum wandten sich voll Abscheu ab. In unserer Kabine las sie mir wie üblich die Leviten. Das werde ich nie vergessen.
Mein Vater kommt von der Spätschicht zurück. Er arbeitet bei der Stadtreinigung. Nicht im Büro oder so, sondern ganz unten, als Müllmann. Der Lohn ist eher bescheiden, aber Vater hat großes Talent als Schatzsucher. Er findet alles Mögliche im Abfall. Das meiste bringt Mutter sofort zur Pfandleihe – und holt es dann nie wieder ab.
Mein Vater stellt sich neben mich, sieht die Tränen über meine Wangen rollen und schaut zu meiner Mutter.
»Du weißt doch, dass sie davon weinen muss«, sagt er leise, noch nicht einmal vorwurfsvoll. Aber Mutter fühlt sich angegriffen.
»Von ein paar Tränen stirbt man nicht«, faucht sie.
Ich zeige keine Reaktion. Wenn man nichts an sich heranlässt, ärgert es sie am meisten.
Wie üblich stehe ich um halb fünf auf. In der Regel habe ich dann ein paar Stunden geschlafen, aber in dieser Nacht lag ich wach. Mein Kopf fand keine Ruhe.
Wenn jeder Tag von frühmorgens bis spätabends mit Arbeit angefüllt ist, kann man sich selbst lange vorgaukeln, dass alles gut läuft. Aber das stimmte überhaupt nicht. Ich war zwar ständig auf Trab, aber gut lief es auf keinen Fall für mich. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass ich in dieser Nacht zu dieser Einsicht kam, bloß raubte sie mir leider den Schlaf. Ich war von einer inneren Antriebskraft erfüllt, mit der ich zu dieser Uhrzeit überhaupt nichts anfangen konnte.
Ich setze mich ans Klavier und lege meinen müden Kopf auf den Deckel der Tastatur. Ich streichle über das Holz. Wie oft habe ich Trost gesucht bei diesem Instrument, das mein Vater auf dem Müll gefunden hat. Das Holz war stumpf und hier und da rissig. Bei manchen Tasten blätterte der Elfenbeinbelag ab. Zu unserer Verwunderung steckte damals noch der Schlüssel im Deckel; das gab mir ein Gefühl von Sicherheit.
Mutter wollte das Monstrum, wie sie es nannte, nicht in der Wohnung haben, aber Vater setzte sich zum ersten Mal in meinem Leben durch. »Das ist mein Geschenk für Willy«, sagte er. Als Mutter fragte, weshalb ich ein Geschenk verdient hätte, antwortete er: »Heute ist ihr Geburtstag.«
Ich war selbst überrascht, dass ich Geburtstag hatte, denn bei uns ignorieren wir das einfach. Genauer gesagt ignorieren wir alle Feiertage. Aber diesen Tag würde ich nie wieder vergessen. Ich bekam mein Klavier am 26. Juni 1912, an meinem zehnten Geburtstag, und es war das beste Geschenk, das ich je erhielt.
Ich öffne den Deckel und schlage einige Tasten an. Man hört kaum etwas, denn die Saiten werden von einem langen Stock mit Filzlappen gedämpft, der im Klangkasten hängt. Ich habe die Konstruktion selbst gebaut. Ich übe immer zwischen halb fünf und sieben Uhr am Morgen. Das ist die einzige Zeit, die ich für mich habe.
Nach gut einer Viertelstunde höre ich abrupt auf. Jetzt kann ich schon nicht mal mehr klar denken! Ich muss doch heute nirgendwo hin. Aber ich lege mich nicht wieder unter die Bettdecke. Meine Mutter soll nicht mitbekommen, dass etwas an mir ab jetzt anders ist.
Ich streiche eine Anzeige in der Zeitung der strengen Bewerberin durch. Wenn sie wüsste, dass ich ihre eingekreisten Stellenanzeigen abarbeite, um selbst etwas zu finden. Bislang ohne Erfolg. Eine einzige Anzeige mit einem Kringel drum herum ist noch übrig.
Ich betrachte zweifelnd das Varietétheater in der Gasse, in der verschiedene Brandschutzleitern enden. In the Mood prangt über dem Eingang, zu dem eine kurze Steintreppe führt. Oben steht ein muskulöser Portier. Ich bin mir nicht sicher, ob ich hineingehen soll, aber wenn ich schon einmal da bin …
»Ich komme wegen der Stelle als …«, ich schaue in die Zeitung, »Garderobenfrau.« Ich muss zu ihm emporschauen, er blickt auf mich herunter.
»Die ist schon vergeben. Aber sie wäre sowieso nichts für dich gewesen.«
»Weshalb nicht?«
»Wir leben hier vom Trinkgeld … Darum wär’s nichts für dich.«
Er schaut mich geringschätzig an.
Ich bin nicht auf den Kopf gefallen, und mir ist klar, dass er mich gerade wegen meines Aussehens beleidigt hat, aber mir fehlt die Energie, ihm etwas zu entgegnen. Meine Beine sind müde, und außerdem habe ich ein gemeines Steinchen im Schuh. Ich gehe weiter in die Gasse, streife den Schuh mit dem anderen Fuß ab, hebe ihn auf, um den Stein herauszuschütteln, und entdecke das Loch in der Sohle. Auch das noch.
»Eine Abfuhr bekommen?«
Ich wende mich um und sehe, dass mich ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren beobachtet. Er steht etwas versteckt hinter