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Mark Taylor in guter Erinnerung, andere wollten an ihn nicht erinnert werden. Jimmy hatte es sich nicht so schwierig vorgestellt, den Vater wiederzufinden.

      Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie groß New York und wie klein dagegen ein Mann ist. Aber er gab nicht auf. Er klapperte sämtliche Boxschulen ab, die er kannte, und er suchte sich weitere aus dem Adressbuch heraus.

      Um 19 Uhr machte er Pause. Da war er mit seiner Freundin Hester in der 125. Straße Ost verabredet. Er wartete auf sie in einem Coffeeshop. Davon, dass Ben Shaw einem Mordanschlag zum Opfer gefallen war, hatte er noch keine Ahnung.

      Hester Collins, ein quirliges, achtzehnjähriges Mädchen mit tanzenden braunen Locken, betrat kurz nach 19 Uhr das Lokal. Sie trug einen dieser hochmodernen überlangen Pullover und die passenden Legwarmers dazu.

      Jimmy hob die Hand. Hester erblickte ihn, setzte ein strahlendes Lächeln auf und begab sich zu ihm. Sie küsste ihn ungeniert und setzte sich. „Ich kann leider nicht lange bleiben“, sagte sie.

      „Ich auch nicht“, sagte er.

      Jimmy erzählte der Freundin von den Sorgen, die seine Mutter und er neuerdings hatten.

      Hester blickte ihn erschrocken an. „Das ist ja schrecklich.“

      Er setzte zu einem Lächeln an, das aber nicht zustande kam. „Wir werden das schon irgendwie schaffen. Ich bin auf der Suche nach meinem Vater. Sobald er bei uns ist, geht’s wieder aufwärts. Außerdem können wir mit der Hilfe des besten Privatdetektivs von New York rechnen. Bount Reiniger ist sein Name. Er ist ab und zu Gast bei uns. Ich bin überzeugt, dass es ihm gelingt, diesen Verbrechern das Handwerk zu legen. Reiniger hat bisher noch jeden erwischt.“

      Jimmy legte seine Hand auf ihren Arm. „Hör zu, Hester, es ist wahrscheinlich besser, wenn wir uns für eine Weile nicht sehen.“

      „Warum nicht?“

      „Ich habe Angst um dich, und ich möchte dich in unsere Schwierigkeiten nicht hineinziehen, verstehst du?“

      Hester schüttelte den Kopf. „Nein, Jimmy, das verstehe ich nicht. Wir gehören nicht nur zusammen, wenn die Sonne scheint.“

      „Nett, dass du das sagst. Ich danke dir dafür. Aber wenn man eine Gefahr kennt, sollte man ihr aus dem Wege gehen, und genau das wirst du tun. Versprichst du mir das? Ich habe schon genug um die Ohren. Ich möchte mir nicht auch noch um dich Sorgen machen müssen. Vielleicht ist die Sache in ein paar Tagen ausgestanden, dann melde ich mich wieder bei dir. Bis dahin beschränken wir uns aufs Telefonieren, okay?“

      Hester seufzte. „Okay, wenn du es wünschst.“ Sie blickte auf ihre Uhr und sagte, sie müsse gehen.

      „Was hast du denn so Wichtiges zu tun?“, wollte er wissen.

      „Du weißt doch, dass ich meine Finanzen mit Nachhilfeunterricht aufbessere“, sagte Hester Collins. „Da ist ein Junge aus der Nachbarschaft. Er hängt ziemlich in Mathematik und hat morgen eine schwierige Prüfung vor sich. Ich will versuchen, ihm zu helfen. Vielleicht geht ihm heute noch ein Licht auf. Wenn nicht, wird er die Klasse wohl oder übel wiederholen müssen.“

      „Deswegen stürzt die Welt nicht ein.“

      „Für ihn schon. Er ist sehr sensibel.“

      Hester erhob sich. Sie bat Jimmy, seiner Mutter schöne Grüße von ihr zu bestellen und verließ den Coffeeshop. Er sah ihr nach, als sie an der großen Glasscheibe vorbeiging.

      Sie winkte ihm noch einmal zu, überquerte die Straße, begab sich zur nächsten U-Bahn-Station und fuhr nach Hause. Das Gebäude, in dem sie wohnte, stand in Long Island City.

      Es war ein schmales, hohes, altes Haus mit einem schäbigen offenen Lift, der bei jeder Fahrt furchtbar ächzte und in naher Zukunft wohl seinen Geist auf geben würde.

      Hester benützte ihn nicht gern, da sie aber im neunten Stock wohnte und keine Lust hatte, Weltmeisterin im Treppensteigen zu werden, nahm sie doch immer wieder seine Dienste in Anspruch.

      Im Flur war es dunkel. Die Lampe, die ihn normalerweise erhellte, war ausgefallen. Hester fand sich auch ohne Licht zurecht. Sie hätte den Fahrstuhl mit verbundenen Augen gefunden, wusste genau, wie viele Schritte sie machen musste, um ihn zu erreichen, und kannte jeden Mauervorsprung.

      Beim Gitterkäfig angelangt, drückte sie auf den Rufknopf. Irgendwo hoch oben setzte sich der Aufzug ratternd und ächzend in Bewegung. Diese Geräusche überlagerten ein anderes, das hinter dem Mädchen entstand.

      Hester Collins bemerkte nicht, wie sich aus dem dunkelgrauen Schatten einer Mauernische eine Gestalt löste und auf sie zu schlich. Ahnungslos stand sie vor der Aufzugtür und wartete auf die Kabine.

      Die Gestalt bewegte sich vorsichtig auf sie zu, hob beide Hände. Einen Schritt war sie von Hester nur noch entfernt. Das Mädchen spürte plötzlich den heißen Atem eines Menschen über ihren Nacken streichen.

      Ihr Herz übersprang einen Schlag. Sie wollte sich erschrocken umdrehen, aber da wurde sie hart gepackt und festgehalten. Eine Messerspitze drückte sich schmerzhaft in ihren Hals.

      „Keinen Laut!“, knurrte der Mann hinter ihr.

      Hester war steif wie ein Brett geworden. Auf ihrem blassen Gesicht spiegelte sich die Angst. Würde der Kerl zustoßen? Was hatte er im Sinn? Eine Vergewaltigung?

      O Gott, nein, dachte Hester bestürzt. Lieber will ich sterben.

      „Ganz still!“, sagte der Mann.

      „Ja“, stammelte Hester. „Ja.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Was wollen Sie von mir?“

      „Du bist doch Jimmy Taylors Freundin.“

      „Ja.“

      „Uns passt nicht, was der Junge tut. Wie wär’s, wenn du in unserem Sinn Einfluss auf ihn nehmen würdest?“

      „Was soll ich ihm denn sagen?“

      „Dass er den Dingen ihren Lauf lassen soll. Er kann ja doch nichts verhindern, handelt sich nur zusätzlichen Ärger ein, wenn er weitermacht. Ich glaube, er hängt sehr an dir. Wenn er uns ärgert, könntest du zu Schaden kommen. Wirst du ihm das bestellen?“

      „Ja …“, keuchte Hester Collins.

      Der Mann lachte. „Du bist ein kluges Mädchen. Wäre schön, wenn es dir gelänge, Jimmy zur Vernunft zu bringen. Schaffst du es nicht, könnte es passieren, dass ich mich noch einmal um dich kümmere. Dann kommst du aber nicht bloß mit dem Schrecken davon, das kannst du von mir schriftlich haben. Ist alles klar?“

      „Ja …“, flüsterte Hester. Ihre Knie zitterten und waren weich wie Gummi. Wenn der Kerl sie doch nur endlich losgelassen hätte.

      Der Fahrstuhl traf im Erdgeschoss ein. „Du steigst jetzt in den Lift, ohne dich umzudrehen“, sagte der Mann.

      Hester wagte wegen des Messers, das an ihrer Kehle saß, nicht zu nicken. Sie hatte sich im Leben noch nie so sehr gefürchtet.

      „Du fährst nach oben und rufst Jimmy an“, sagte der Verbrecher. „Wohlgemerkt: Jimmy! Nicht die Polizei! Solltest du die Bullen einschalten, bist du dran. Glaub nicht, dass wir das nicht bemerken würden. Vielleicht haben wir dein Telefon angezapft. Also sei vernünftig, dann wird dir nichts geschehen.“

      Der Mann griff an Hester Collins vorbei und öffnete die Aufzugtür. Endlich nahm der Gangster das Messer fort. Das zitternde Mädchen atmete erleichtert auf.

      Der Kerl versetzte ihr einen Stoß, der sie in die Liftkabine beförderte. Hinter ihr fiel die Tür zu. Ohne sich umzudrehen, suchte sie mit zitternder Hand die Etagenknöpfe.

      Sie wusste nicht, ob sie auf den richtigen Knopf drückte, das war im Moment auch nicht so wichtig. Hauptsache, der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung und brachte sie fort von hier.

      Mit einem Ruck hob sich die Kabine. Hester blieb so stehen, wie sie stand.

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