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fanatisches Gesicht, allmählich erleichtert und zufrieden.

      Weitere sozialkritische Referate folgten.

      Ernest Mandel forderte nichts Geringeres als „antikapitalistisches Bewusstsein und den antikapitalistischen Kampf …, um die Unfreiheit des Arbeiters und Angestellten an dem Arbeitsplatz selbst, seiner grundlegenden Entfremdung und Verdinglichung im Arbeitsprozess zu beenden … Es lebe die internationale Solidarität … es lebe die sozialistische Weltrevolution.” Die hochgereckte Faust unterstützte seine markigen Weckrufe.

      Zwei junge Amerikaner verbrannten ihre Einberufungskarten zum Militärdienst. Wieder brauste begeisterter Applaus auf. Weitere Solidaritätserklärungen aus allen Herren Länder wurden verlesen.

      Einzelne, zumeist kurzgehaltene Gegenstimmen verhallten bedeutungslos, wurden mit Gegenstimmen unterbrochen, trotz Dutschkes Ermahnung, auch abweichende Meinungen zu ertragen. Insbesondere ein unscheinbarer kleiner Mann, Typ tadelnder Grundschullehrer, abgetragene Kleidung, fiel auf, der sich ans Katheder stellte, vor ihm die Schulklasse, die es zu maßregeln galt. Im Gegensatz zu seinem Erscheinen, ertönte eine kraftvolle Stimme, die das allgemeine Geraune übertönte.

      „Diese Veranstaltung ist nichts als leeres Geschwätz feiger Politagitatoren. Wenn ihr Mut habt, kommt mit mir nach Vietnam. Dort tobt der Kampf, an dem ihr teilhaben könnt. Hier geht ihr kein Risiko ein.”

      „Wir kämpfen mit Argumenten, bislang, richtige Hilfe für die vietnamesische Revolution wäre nur die im eigenen Land. So weit sind wir noch nicht. In Vietnam wärest du höchstens ein Hindernis für den Vietcong, die müssten mindestens drei Leute für dich abstellen, damit du dich nicht im Dschungel verläufst. Es lebe der SDS. Hau ab!”

      Gelächter erschallte.

      Die Schlusserklärung wurde verlesen: „Die in Westberlin versammelten Vertreter der sozialistischen Jugend Westeuropas, der amerikanischen Widerstandsbewegung und der revolutionären Jugend der drei Kontinente werden ihren gemeinsamen antiimperialistischen Kampf konkretisieren und zum aktiven Widerstand entfalten. Folgende Aktionen sind zu planen: Materielle Unterstützung des vietnamesische Befreiungskampfes, Wehrkraftzersetzung der US-Armee, Kampagnen gegen die Nato, Einrichtung einer Dokumentationszentrale, Aufklärung der Bevölkerung.

      Und wieder wurde dem Publikum die Hoffnung zugerufen: „Es siege die vietnamesische Revolution. Es siege die sozialistische Weltrevolution!”

      Eine letzte Aufforderung erklang: „Kommt morgen alle zur genehmigten Demonstration, Sich-Sammeln in Höhe des Olivaer Platz, die Route geht über den Kurfürstendamm zur Deutschen Oper, den Ort des Polizeiexzesses vom 2. Juni, wo Benno Ohnesorg erschossen wurde. Dort wollen wir keine physische Konfrontation, keine Wasserspiele. Denkt daran, zur Revolution gehört auch Geduld und Disziplin. Das Ende der Demonstration ist eine klare politische Aussage gegen den Senat, der momentan allenfalls gewaltlos gestürzt werden kann.“

      Peter staunte, hielt Letzteres für eine unsinnige, weil hoffnungslose Vorstellung.

      Die Podiumsteilnehmer verließen ihre Plätze, der Saal leerte sich. Ein Teilnehmer drückte Peter eine Mao-Fibel in die Hand, sein erstes Geburtstagsgeschenk.

      „Genosse Mao Zedong ist der größte Marxist-Leninist unserer Zeit”, las er und, „Jeder Kommunist muss die Wahrheit begreifen, die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen … Eine Revolution ist kein Gastmahl … ein Kraftakt, durch den eine Klasse eine andere Klasse stürzt.”

      Hier hatte Peter heute erlebt, wie mit heftigen Worten gekämpft, auch Waffengewalt beschworen wurde, denn noch keine der bisherigen und gegenwärtigen kommunistischen Revolutionen hatte darauf verzichten können, um zu siegen oder siegen zu wollen. Das hieß in letzter Konsequenz, den Tod in Kauf zu nehmen, auch den eignen.

      Am 11. April 1968 schoss Josef Bachmann, ein Gelegenheitsarbeiter aus Peine, am Kurfürstendamm vor dem SDS-Haus dreimal auf Rudi Dutschke, zweimal in den Kopf und einmal in die Brust. Am 24.12.79 ertrank dieser nach einem epileptischen Anfall, als Folge seiner Kopfverletzung, tragischerweise in einer Badewanne.

      Nach dem Attentat folgten unmittelbar schwere Ausschreitungen, nicht nur in Berlin, auch in Westdeutschland. Der studentische Kampf eskalierte.

      Eine der vielen studentischen Demonstrationen, vorbei am umzäunten Amerikahaus, bewegte sich zur Abschlusserklärung auf den Ernst-Reuter-Platz zu. Wie gewohnt miteinander untergehakt skandierten die ersten Reihen: „USA, SA, SS, Ho-,Ho-,Ho-Chi-Minh”, animierten den Rest, der einstimmte. Rote Fahnen wurden geschwenkt, revolutionäre Parolen auf mitgeführten Transparenten verkündet. Die Technische Universität war zum Schutz vor Beschädigung mit Stacheldraht umzäunt worden. Doch militante Demonstranten rissen eine Lücke hinein und strömten auf das Gelände. Peter mittendrin. Die nachrückende Polizei wurde mit Steinen beworfen, diese setzte Rauchgas ein.

      „Schmeiß die kochend heißen Bomben zurück, aber nur mit dem Wollhandschuh”, belehrte ihn ein verwegener Mitstreiter, „Wolle schützt und brennt schlecht.” Wie gesagt nahm dieser die nächste anrollende rauchende Blechbüchse mit bewehrter Hand auf und schleuderte sie zurück.

      Doch dem alles entschlossenen Polizeisturm hatten die Eindringlinge letztendlich nichts entgegenzusetzen. Was nützte das Versteck in der Toilette, wenn beißender Qualm jeden zurück ins Freie zwang, geradewegs in die Arme einsatzbereiter Polizisten. Gegenseitige Flüche, Schreie wurden laut, der Gummiknüppel tanzte. Ein am Kopf Getroffener umklammerte diesen mit beiden Händen, krümmte sich vor Schmerzen.

      Selber schuld, der trockene Kommentar des Polizisten.

      In Reih und Glied wurden alle Aufgegriffenen an der Wand aufgestellt, dann in die Grüne Minna verladen. Eine lange Fahrt in einen Außenbezirk Berlins fand statt, wahrscheinlich Spandau. In einem ehemaligen Kasernengebäude mit Kerkerzellen erfolgten erkennungsdienstliche Maßnahmen der Mitgenommenen: Daumenabdruck, Foto, von vorne, von der Seite, dann die kommentarlose Einsperrung in eine der Zelle. Fragen wurden nicht beantwortet.

      Die Nacht brach herein, und weit nach Mitternacht stellte sich für Peter eine unverhoffte Wende ein, der Wachmann forderte ihn auf: „Geh nach Hause.” Orientierungslos stolperte er durch die dunkle Nacht. Dennoch, die frische Luft war Labsal. Endlich erschien ein Wohngebiet, wo nach langem Warten ein erstes öffentliches Verkehrsmittel aufkreuzte, um ihn mitzunehmen.

       Eintritt in die Universität

      Zögerlich durchstreifte Peter den großflächigen Campus der Freien Universität Berlin in Dahlem, auch er frei, jeglicher Fremdvereinnahmung abhold.

      Philosophie, Mathematik, Medizin, Jura, diese archaischen Fächer, jahrhundertelange Herausforderungen, kamen ihm in den Sinn. Wem oder was sollte er folgen, Lust oder Laune, Münzwurf oder Vergabestelle für Numerus-Clausus-Fächer?

      Dann, von allen Überlegungen entbunden und womit er am allerwenigsten gerechnet hatte, kaum geglaubt und im Zweckpessimismus von sich gewiesen, war der Brief mit der Zulassung zum Medizinstudium gekommen, neben der Mathematik einer der Favoriten. Seinen aufkommenden Stolz erstickte er in beherrschter Gelassenheit. Es gab niemanden, dem er sich begeistert hätte mitteilen können, außer den Eltern.

      Das braune Pappheftchen – Studienbuch der FU Berlin mit fünfstelliger Matrikelnummer und verschnörkeltem Namensschriftzug – beeindruckte ihn trotz nüchterner Schlichtheit, da es das Privileg vermittelte, Student zu sein.

      Auf der ersten Innenseite befand sich das eingelochte Passbild eines jungen Mannes: glattes Gesicht, offener Blick, volles, aus der Stirn gekämmtes, gescheiteltes Haar, Jackett, weißes Hemd, gepunktete Krawatte. Darunter ein amtlicher Stempel und seine eigenhändige, zügig davoneilende Unterschrift, von einem zurückschießenden Strich wieder eingefangen. Auf der nächsten Seite folgten Angaben über die Staatsangehörigkeit: Deutsch, die Fakultät: Medizinische, Tag der Aufnahme: 19.11.68, im Wintersemester 1968/69.

      Im Belegblatt trug er eigenhändig die Vorlesungen und Praktika seiner Premierenfächer Physik, Chemie, Zoologie, Histologie und Anatomie ein.

      Der große, breitschultrige Bursche neben Peter gab sich mit unverkennbarem Gleichmut der Betrachtung

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