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zu verbringen und zu verschwatzen. Peter liebte sie, entzog sich aber ihrer Hoheit.

      Für den Vater, Flugzeugingenieur und einst stolzer Pilot, gab es nach dem Krieg keine angemessene Arbeit. Von Abenteuerlust getrieben fand er diese in Bagdad und schraubte dort Baufahrzeuge zusammen, deren Räder spielend einen Mann überragten. Bilder von dort zeigten einen groß gewachsenen, schlanken Mann mit scharf geschnittenen Gesichtszügen, mal im Straßenkreuzer, mal bei der Antilopenjagd in der Wüste. Doch da ihm die Familie fehlte, brach er die Zelte im Orient ab und beendete die Trennung. Für Peter folgte eine spürbare Einschränkung seiner bisherigen Herumtreiberei, die der Vater nicht billigte. Mehr jedoch machte ihm dessen bald darauf folgender beruflicher Ortswechsel zu schaffen, weg aus dem herben und gradlinigen Norden mit Verlust des Vertrauten und Gewohnten, hinein ins ungewohnte Leutselige einer bergisch-rheinischen Kleinstadt. Hier waren Beziehungen alles. Man kannte einander, suchte die gesellige Bestätigung und fühlte sich gegenseitig verpflichtet.

      Nichts von alledem war Peter zu eigen, weder in die Gesellschaft noch in die Schule vermochte er sich zu intrigieren. Er schloss mit der Mittleren Reife ab, wollte wie der Vater Ingenieur werden und zunächst eine technische Lehre machen. Doch auch hier fand er keinen Halt. Die Welt an der Werkbank, nach industriellen Normen von nüchternen Technokraten entworfen, vollbracht unter den wachsamen Augen von Vorarbeitern, ausgeführt in lärmender Fabrikhalle und kontrolliert von der Stechuhr führte mehr denn je ins Leere, die auch Zigaretten, Bier, Urlaub oder Fußball nicht auszufüllen vermochten.

      Sein Versuch, mit einem Motorrad gelegentlich dem Alltag zu entfliehen, scheiterte zuletzt nach einem Unfall mit Totalschaden der Maschine. Glücklicherweise blieb er unverletzt.

      In dieser ausweglosen Lage gab es nur eine Chance, sich wie einst Münchhausen mit aller Kraft am eigenen Schopfe zu packen und aus der Misere zu ziehen. Er brach entschlossen die Zelte im verhassten kleinbürgerlichen Milieu ab und bestieg zum ersten Mal in seinem Leben ein Flugzeug, das ihn in die Weltstadt Berlin brachte. Hier waren eine einfache Bleibe und eine Fabrikarbeit schnell gefunden. Das Ziel war jedoch das Peter-A.-Silbermann-Abendgymnasium. Hier sprach er beim Rektor vor, gab Vorwissen an und schrieb an Ort und Stelle einen Aufsatz. Schon ein paar Tage später wurde ihm die Zusage gemacht, seine schulische Laufbahn genau an dem Punkt fortsetzen zu dürfen, wo sie seinerzeit aufgehört hatte. Er war der glücklichste Mensch auf der Welt und noch einmal genauso glücklich, als ihm im Mai 1968 nach bestandenem Abitur das Zeugnis der Reife übergeben wurde.

      Er sah sich wie die Lerche aus der Niederung aufsteigen, um zum Höhenflug anzusetzen.

       Der Internationale Vietnamkongress

      Berlin war Peters neue Heimat geworden. Hier unternahm er ausgedehnte Spaziergänge im Zentrum Westberlins. Vom Bahnhof Zoo, dem städtischen Zoo unmittelbar anliegend, durchwanderte er den Großen Tiergarten und wurde mit deutscher Geschichte konfrontiert. Mitten im Park, auf der breiten Straße des 17. Juni, in Erinnerung an den Volksaufstand in der DDR 1953 und dessen Zerschlagung durch die sowjetische Armee mit diesem Datum bedacht, stand die Siegessäule mit der prächtigen, vergoldeten Victoria, die Preußens Sieg und Gloria verkündete. Die Berliner nannten sie schnodderig nur die Goldelse.

      Einen kleinen Fußmarsch weiter auf das Brandenburger Tor zu, zur Linken, lag das sowjetische Ehrenmal, eine zur Straße hin nach innen gewölbte Pfeilerreihe mit einem zentralen größeren Pfeiler als Sockel für die 8 Meter hohe Bronzestatue eines Rotarmisten mit geschultertem Gewehr, vor dem tagtäglich eine sowjetische Eskorte paradierte. Nicht das Heroische, sondern das Grauen des Krieges wurde hier gemahnt und der gefallenen sowjetischen Soldaten im Kampf gegen Nazideutschland und dessen Vernichtung gedacht.

      Die daraufhin erfolgende politische Teilung Deutschlands in West und Ost wurde unübersehbar direkt vor dem Brandenburger Tor anschaulich. Eine halbmondförmige umschließende, rechts und links weiter verlaufende, übermannshohe Mauer um des Brandenburger Tor versperrte den weiteren Weg. Eine Plattform ermöglichte es, in den Osten hineinzuschauen, auf einen Todesstreifen und Wachtürme. Direkt hinter dem Tor in Ostberlin lag die berühmte Allee Unter den Linden, das einstige lebhafte Zentrum Berlins, jetzt weltverlassen. Genauso fast menschenleer war das Gebiet um den verwaisten Reichstag an der Spree, zur Linken auf der Westberliner Seite.

      Zurück ging Peters Weg entweder durch den Park oder südlich davon vorbei an nur noch von einstiger diplomatischer Vergangenheit zeugenden, verlassenen, einst prunkvollen Botschaftsgebäuden. Die nördliche Route führte zur neuerbauten Kongresshalle hin, von den Berlinern als Schwangere Auster verhöhnt. Es folgten Schloss Bellevue und im Anschluss daran das moderne, architektonische Vielfalt aufweisende Hansaviertel mit seinen extravaganten Hochhäusern. Am Ende seiner Tour gelangte Peter an die Technische Universität, verweilte dort in den einladenden Buchläden mit der riesigen fächerübergreifenden Auswahl, bevor er nach kurzem Fußmarsch wieder den Bahnhof Zoo und den quirlig belebten Kurfürstendamm erreichte.

      Hier war eine zunehmende unruhige politische Atmosphäre unverkennbar. Flugblätter wurden verteilt, kleine Gruppen fügten sich spontan zusammen, diskutierten, häufig lauthals und erregt.

      „Was wollt ihr Studenten? Wofür demonstriert ihr? Wollt ihr die Gesellschaft verändern, um sozialistische Verhältnisse wie in der DDR zu schaffen? Wollt ihr die Demokratie untergraben?”

      „Nein, wir wollen die Bevormundung und die selbstherrliche, verkrustete Autorität von Politik, Presse und gesellschaftlichen Institutionen beenden, Selbstbestimmung erlangen, frei von Zwängen sein. Alle Menschen sind gleich. Dafür kämpfen wir.”

      So stießen die Meinungen aufeinander. Auch Peter brachte sich ein, noch zögerlich, fühlte sich den rebellierenden Studenten verbunden, wollte Stellung beziehen.

      Der Internationale Vietnam-Kongress Westberlin wurde vom 17. bis 18. Februar 1968 an der TH von sozialistischen und kommunistischen Organisationen sowie Gleichgesinnten ausgerufen.

      Der 18. war Peters Geburtstag und schien ihm geeignet, diesen inmitten von Genossen und Revolutionären zu verbringen.

      Der Veranstaltungsort, das Audimax der Technischen Universität am Ernst-Reuter-Platz, war brechend voll; nur auf den Treppenstufen hatte Peter noch Platz gefunden. Auf dem Podest versammelt: die führenden Köpfe des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, SDS, und verwandte revolutionäre Agitatoren.

      Das Thema hieß Der Kampf des vietnamesischen Volkes und die Globalstrategie des Imperialismus.

      In drei Foren postierten sich die Redner, hielten schonungslose Analysen und Referate über Bedeutung und Notwendigkeit der vietnamesischen Revolution und die Revolution in der Dritten Welt, riefen auf zum antiimperialistischen und antikapitalistischen Kampf.

      Eine weltweite Solidarität wurde gefordert. Der siegreiche Kampf des vietnamesischen Volkes gegen den US-Amerikanischen-Imperialismus nährte die Hoffnung auf eine erneute Sozialistische Internationale, um den globalen Imperialismus zu zerschlagen.

      „Errichtet die Revolution im eigenen Land” (Ho Chi Minh), schafft „zwei, drei, viele Vietnams” (Che Guevara), das waren die Maximalforderungen. Eine radikale Jugend- und Studentenbewegung träumte davon, war bereit, in den Straßen der Metropolen ihre Meinung auszutragen, trachtete, das Proletariat für die Revolution zu gewinnen, und zwar möglichst rasch.

      „Genossen. Wir haben nicht mehr viel Zeit”, entschlossen rief es Rudi Dutschke der Versammlung zu, „lasst uns den neuen Menschen in einer neuen Gesellschaft erschaffen.”

      In seinem folgenden Referat legte er Die geschichtlichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf dar. Einem Maschinengewehr gleich feuerte er, ohne Luft zu holen, die Endsilben missachtend, seine Ausführungen ins atemlos schweigende Publikum, schilderte das historisch-ökonomisch Versagen des Spätkapitalismus, beschwor die antifaschistische und antiautoritäre Einheitsfront, verlangte die direkte Herrschaft der Produzenten über die Produktionsmittel, wünschte die Globalisierung der revolutionären Kräfte, schloss mit den Sätzen:

      „Die Revolutionierung der Revolutionäre ist die entscheidende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen. Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen.”

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