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keinen Geschmack finde. Ich weiß nur dies: dass der Himmel länger dauern wird als ich. Und was soll ich ewig nennen außer den Dingen, die meinen Tod überdauern? Ich rede hier nicht einer billigen Zufriedenheit des Geschöpfes mit seinem Zustand das Wort. Das ist etwas ganz anderes. Es ist nicht immer leicht, ein Mensch zu sein, und erst recht nicht ein reiner Mensch. Rein sein aber heißt, jene Heimat der Seele wiederfinden, wo wir uns dieser Welt verwandt fühlen, wo das Blut in unsern Adern im gleichen Rhythmus pocht wie der glühende Puls der Mittagssonne. Es ist allbekannt, dass man sein Vaterland stets dann erkennt, wenn man es verliert. Das Land, das diejenigen unter seinen Kindern, die allzu sehr unter sich selber leiden, verleugnet, ist ihr eigentliches Geburtsland. Ich möchte nicht brutal oder übertrieben erscheinen: Aber schließlich ist das, was mich in diesem Leben verleugnet, zunächst einmal das, was mich tötet. Alles, was das Leben steigert, vermehrt zugleich seine Sinnlosigkeit. Der algerische Sommer hat mich gelehrt, dass eines noch tragischer als das Leiden ist: das Leben eines glücklichen Menschen. Es kann aber auch den Weg zu einem größeren Leben bedeuten, sofern es uns lehrt, nicht zu mogeln.

      In der Tat prahlen viele mit ihrer Liebe zum Leben, um der eigentlichen Liebe auszuweichen. Man will genießen und erleben. Aber das ist der Gesichtspunkt des Geistes. Selten, dass einer die echte Berufung zum Genießer hat. Das Leben eines Menschen vollzieht sich ohne den Beistand seines Geistes, ohne sein Zurückweichen wie sein Vordringen, seine Einsamkeit und seine Gegenwart. Wenn ich sehe, wie diese Leute von Belcourt arbeiten, für Frauen und Kinder sorgen und oft, ohne zu murren, muss ich mich heimlich beinahe schämen. Sicherlich mache ich mir nichts vor. Die Menschen, von denen ich rede, wissen nicht viel von Liebe in ihrem Leben. Aber wenigstens haben sie sich vor nichts gedrückt. Es gibt Worte, deren Sinn ich nie ganz verstanden habe, wie etwa das Wort »Sünde«. Dennoch glaube ich sagen zu können, dass diese Menschen nicht gegen das Leben gesündigt haben. Denn wenn es eine Sünde gegen das Leben gibt, so besteht sie vielleicht nicht so sehr darin, an ihm zu verzweifeln, als darin, auf ein anderes Leben zu hoffen und sich der unerbittlichen Größe dieses Lebens zu entziehen. Diese Leute haben nicht gemogelt. Mit zwanzig Jahren waren sie durch ihre glühende Lebensgier die Götter des Sommers und sind es immer noch, obwohl ohne jede Hoffnung. Zweie von ihnen habe ich sterben sehn. Das Entsetzen malte sich auf ihren Zügen, aber sie sagten nichts. So soll es sein. Aus der Büchse der Pandora, in der alle Übel der leidenden Menschheit wimmelten, ließen die Griechen als Letztes und Schrecklichstes die Hoffnung schlüpfen. Ich kenne kein erschütternderes Symbol. Denn hoffen heißt zuletzt entsagen, wenn man auch das Gegenteil zu glauben pflegt. Und leben heißt: nicht entsagen.

      Das wenigstens ist die bittere Lehre des algerischen Sommers. Aber schon schwankt der Sommer und neigt sich seinem Ende zu. Nach so viel Heftigkeit und Härte sind die ersten Septemberregen wie die ersten Tränen der erlösten Erde, als empfände selbst dieses Land ein paar Tage lang etwas wie Zärtlichkeit. In dieser Zeit verbreiten die Johannisbrotbäume ihren liebeerregenden Duft über ganz Algerien – abends, wenn nach dem Regen der feuchte Leib der Erde einen Geruch wie bittre Mandeln ausströmt und ausruht, nachdem er sich den ganzen Sommer der Sonne hingegeben hat. Aufs Neue bekräftigt dieser Duft die Hochzeit des Menschen und der Erde und erweckt in uns die einzige, wahrhaft männliche, hochherzig-vergängliche Liebe in dieser Welt.

      Anmerkung

      Zur Erläuterung diesen Bericht über eine Schlägerei, den ich in Bab-el-Oued gehört habe und Wort für Wort wiedergebe. (Der Erzähler spricht nicht immer wie der »Cagayous de Musette«, der Gauner in einem typischen Tanzlokal Algiers. Darüber sollte man sich nicht wundern. Die Sprache Cagayous’ ist oft literarisch, ich meine damit eine Neugestaltung. Die Leute aus dem »Milieu« sprechen nicht immer Argot. Sie verwenden nur Argotausdrücke, und das ist schließlich ein Unterschied. In Algier werden ein typisches Vokabular und eine ganz besondere Syntax verwendet. Aber erst wenn sie Eingang in die französische Sprache gefunden haben, kommt ihre Würze voll zur Geltung.)

      Coco geht also auf ihn zu und sagt zu ihm: »Halt mal, hör auf.« Der andere darauf: »Was ’n los?« Coco dann zu ihm: »Ich werd dir ein paar schruppen.« – »Mir ein paar schruppen?« Der hält dann die Hand hinter den Rücken, aber nur als Vortäuschung. Darauf Coco zu ihm: »Halt nicht die Hand nach hinten, denn dann hau ich dir die 6-35 aus der Hand, und die Fresse polier ich dir eh.«

      Der andere hat keine Hand gerührt. Und Coco hat nur einmal zugeschlagen, wirklich nicht zweimal, nur einmal. Der andere lag schon am Boden und machte: »Aua, aua!« Dann kamen allerhand Leute dazu; und damit fing die Schlägerei an. Erst ist einer auf Coco losgegangen, ein Zweiter, ein Dritter. Ich hab denen gesagt: »Sag mal, willst du meinem Bruder an die Wäsche?« – »Wer, dein Bruder?« – »Auch wenn er nicht mein Bruder ist, ist er doch wie mein Bruder.« Und damit verpasste ich ihm eine. Coco schlug zu, ich kloppte mit, Lucien haute auch drauf. Ich hatte einen in der Ecke und mit dem Kopf: boing, boing! Dann kamen die Polizisten. Die verpassten uns Handschellen, du. Mit knallroter Birne musste ich durch ganz Bab-el-Oued gehen. Vor der Gentleman’s Bar waren Kumpels und Puppen, sag ich dir. Knallrot war ich. Aber nachher hat Luciens Vater zu uns gesagt: »Ihr habt recht!«

      Die Wüste

      für Jean Grenier

      Leben ist sicher so ziemlich das Gegenteil von Gestalten. Haben die großen toskanischen Meister recht, so bedeutet es dreimal Zeugnis ablegen – schweigend, brennend und regungslos.

      Es braucht viel Zeit, bis man begreift, dass man die Personen auf ihren Bildern alle Tage in den Straßen von Florenz und Pisa trifft. Aber wir haben ohnehin verlernt, die wirklichen Gesichter der Leute in unserer Umgebung zu sehen. Wir sehen uns unsere Zeitgenossen nicht mehr an, sondern nur noch das an ihnen, was uns nützt und unser Verhalten bestimmt. Wir ziehen dem Gesicht selber seine »Poesie« vor, und sei sie noch so vulgär. Giotto oder Piero della Francesca hingegen wissen, wie wenig an der Empfindsamkeit eines Menschen liegt. Und ein Herz kann schließlich jeder haben. Aber die großen, einfachen und ewigen Gefühle: Lebenslust, Hass und Liebe mit ihrem Jubel und ihren Tränen kommen aus der Tiefe des Menschen und formen das Antlitz seines Schicksals – wie in der Grablegung des Giottino den Schmerz der Maria, die mit zusammengebissenen Zähnen duldet. Auf den gewaltigen Bildern der »thronenden Gottesmutter« in den toskanischen Kirchen sehe ich zwar eine Menge von Engeln mit immer den gleichen Gesichtern; und doch verrät jedes dieser stummen, leidenschaftlichen Gesichter mir seine Einsamkeit.

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