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Hochzeit des Lichts. Albert Camus
Читать онлайн.Название Hochzeit des Lichts
Год выпуска 0
isbn 9783037900574
Автор произведения Albert Camus
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
In den kleinen Kinos von Algier kann man hin und wieder Pfefferminzbonbons kaufen mit Zettelchen, auf denen in roter Schrift alles steht, was nötig ist, um eine Liebschaft ins Leben zu rufen: 1. Fragen: »Wann werden Sie mich heiraten?«; »Lieben Sie mich?«; 2. Antworten: »Bis zum Wahnsinn«; »Im Frühling«. Hat man das Terrain sondiert, so gibt man die Zettelchen seiner Nachbarin, die auf dieselbe Weise antwortet oder tut, als verstände sie nicht. In Belcourt ist es mehrfach passiert, dass auf diese Weise Ehen zustande gekommen sind und zwei Menschen sich durch einen Austausch von Pfefferminzbonbons fürs ganze Leben verbunden haben – ein hübscher Beweis für die Kindlichkeit dieses Volkes!
Jungsein bedeutet vielleicht, dass man berufen ist, mühelos und strahlend glücklich zu sein. Vor allem aber bedeutet es, dass man sich mit verschwenderischem Leichtsinn ins Leben stürzt. Die Männer in Belcourt und auch in Bab-el-Oued heiraten jung. Sie beginnen sehr früh zu arbeiten und erschöpfen die Erfahrung eines ganzen Lebens innerhalb von zehn Jahren. Ein Arbeiter von dreißig Jahren hat bereits seine sämtlichen Trümpfe ausgespielt und wartet, umgeben von seiner Frau und seinen Kindern, auf sein Ende. Sein Glück war kurz und heftig und kennt kein Erbarmen. Genauso sein Leben. Man begreift, dass er ein Kind dieses Landes ist, wo das Glück all seine Gaben wieder zurückfordert. In dieser Fülle und Verschwendung wird das Leben bestimmt durch große, jähe, anspruchsvolle und großmütige Leidenschaften. Man baut es nicht auf: Man verbrennt es; daher denn auch niemand nachdenkt oder besser zu werden trachtet. So ist hier beispielsweise die Vorstellung der Hölle nur ein liebenswürdiger Scherz. Solche Fantasien sind nur den Allertugendhaftesten erlaubt; und »Tugend«, glaube ich, ist in ganz Algerien ein Wort ohne Bedeutung. Deshalb fehlt es diesen Menschen nicht etwa an festen Grundsätzen. Man hat seine Moral, und zwar durchaus eine eigenwillige. Man lässt seine Mutter »nicht im Stich«. Man beschützt seine Frau auf der Straße. Man ist zuvorkommend gegen Schwangere. Man fällt nicht zu zweien über einen Einzelnen her, weil das »sich nicht gehört«. Wer diese einfachsten Gebote nicht beachtet, »ist kein Mann«; damit ist alles gesagt. Das scheint mir eine gerechte und gesunde Auffassung zu sein. Es gibt unter uns noch viele, die unbewusst diese ungeschriebene Straßenmoral respektieren – meines Wissens die einzige uneigennützige Moral. Aber genauso wenig trifft man hier die Krämerseele an. Die Gesichter um mich herum drückten stets Mitleid aus, wenn ein Mann von Polizisten abgeführt wurde. Und bevor überhaupt bekannt war, ob der Mann gestohlen hatte, ein Vatermörder oder schlichtweg ein Nonkonformist war, sagte man: »der Arme« oder sogar mit einem Anflug von Bewunderung: »Das ist ein Pirat.«
Es gibt Völker, die von Natur stolz und lebenslustig sind. Gleichzeitig sind grade sie am meisten der Langeweile ausgeliefert, und ihre Vorstellung vom Tode ist abstoßend banal. Die Belustigungen dieses Volkes sind albern, wenn man von den Freuden der Sinne absieht. Seit undenklichen Zeiten geben sich die Leute über dreißig zufrieden mit Unterhaltungen wie Kino, Kegelspielen, Vereinsfeiern und Gemeindefestlichkeiten. Nichts Trübsinnigeres als ein Sonntag in Algier! Wie kann man von diesem geistlosen Volk erwarten, dass es sich die tiefe Trostlosigkeit seines Lebens durch Mythen verhüllt? Alles, was mit dem Tode zu tun hat, wird als lächerlich oder als peinlich empfunden. In diesem Volke ohne Religion und ohne Idole lebt man gesellig und stirbt allein. Ich kenne keinen widerlicheren Ort als den in einer der schönsten Landschaften der Welt gelegenen Kirchhof des Boulevard Bru. Zwischen lauter Denkmälern von schlechtestem Geschmack und lauter schwarzen Gestalten zeigt der Tod sein trostlosestes, sein wahres Gesicht. »Alles vergeht, nur die Erinnerung bleibt«, steht auf den herzförmigen Votivtafeln. Alle sind zufrieden mit dieser lächerlichen Ewigkeit, mit der die liebevollen Überlebenden uns so billig abspeisen wollen. Es sind die gleichen Phrasen, mit denen jede Verzweiflung sich tröstet. Man redet mit dem Toten in der zweiten Person: »Unser Gedenken verlässt Dich nicht« – eine üble Heuchelei, die das, was bestenfalls ein schwarzer Schleim ist, mit einem Körper und mit Gefühlen ausstattet. An einer anderen Stelle liest man unter einer betäubenden Fülle von Blumen und Marmortauben das kühne Gelöbnis: »Nie soll Dein Grab ohne Blumen sein.« Aber etwaige Zweifel schwinden schnell; denn über die Inschrift neigt sich ein Strauß vergoldeter Gipsblumen, die den Überlebenden viel Zeit ersparen (genau wie jene »Immortellen«, die ihren pompösen Namen der Dankbarkeit jener eiligen Leidtragenden verdanken, die auf die schon fahrende Straßenbahn springen). Da man mit der Zeit gehen muss, so ersetzt man bisweilen die klassische Lerche durch ein perlgesticktes Flugzeug, an dessen Steuer ein alberner und mit einem überflüssigen Flügelpaar ausstaffierter Engel sitzt.
Man darf trotzdem nicht übersehen, dass diese Bilder des Todes stets eine Beziehung zum Leben behalten. Der beliebteste Scherz der algerischen Totengräber, die mit leerem Wagen fahren, besteht darin, den jungen Mädchen auf der Straße zuzurufen: »Steig ein, mein Schatz!« Der symbolische Charakter dieser Aufforderung, so peinlich er sein mag, ist unverkennbar. Ebenso kann es lästerlich wirken, wenn jemand beim Lesen einer Todesanzeige das linke Auge zukneift mit den Worten: »Der Arme hat ausgerungen«; oder wie jene Dame aus Oran, die ihren Gatten nie geliebt hatte, auszurufen: »Gott hat ihn mir gegeben; Gott hat ihn mir wieder genommen.« Letzten Endes aber sehe ich nicht ein, was am Tode heilig sein soll; hingegen empfinde ich deutlich den Unterschied, der zwischen Angst und Respekt besteht. In diesem Lande, wo alles uns auffordert zu leben, bebt auch alles zurück vorm Sterben. Und dennoch trifft die Jugend von Belcourt sich mit Vorliebe an der Friedhofsmauer, um Küsse und Zärtlichkeiten auszutauschen.
Ich begreife sehr wohl, dass ein solches Volk nicht nach jedermanns Geschmack ist. Hier spielt, im Unterschied zu Italien, die Intelligenz keine Rolle. Diese Rasse ist gleichgültig gegen den Geist. Stattdessen verehrt und bewundert sie den Leib. Er ist die Quelle ihrer Kraft wie ihres naiven Zynismus[2] und ihrer jugendlichen Eitelkeit, die man ihr so streng verweist, wie man ihr überhaupt ihre »Mentalität«, will sagen, ihre Lebensauffassung wie ihre Lebensweise, zum Vorwurf macht. Und man muss zugeben, dass eine gewisse Lebensfülle nicht ohne Ungerechtigkeit bestehen kann. Indessen hat dies Volk ohne Vergangenheit und ohne Überlieferung dennoch seine eigne Poesie, die freilich hart und sinnlich ist und, genau wie sein Himmel, nichts weiß von Zärtlichkeit – die einzige Poesie, die mich wirklich tief erregen und packen kann. Das Gegenteil eines zivilisierten Volkes ist ein Schöpfervolk. Ich habe die verwegene Hoffnung, dass diese Barbaren, die sich am Strand des Meeres tummeln, eines Tages – vielleicht unbewusst – eine Kultur schaffen werden, in der endlich die Größe des Menschen ihren wahren Ausdruck findet. Dieses ganz und gar gegenwärtige Volk kennt keine Mythen und keinen Trost. Es hat sich ganz und gar dieser Erde anvertraut und ist daher wehrlos gegen den Tod. Leibliche Schönheit hat die Natur in reichem Maße an diese Menschen verschwendet und mit ihr zugleich jene seltsame Lebensgier, die stets eine Folge solcher zukunftslosen Fülle ist. Alles, was man hier tut, lässt Widerwillen gegen alles Beständige und Gleichgültigkeit gegen alles Zukünftige erkennen. Man hat es eilig mit dem Leben; und wenn hier je eine Kunst entstehen sollte, so würde sie jenem Hass gegen die Dauer gehorchen, der die Dorier antrieb, ihre erste Säule aus Holz zu schnitzen. Und dennoch kann man in dem heftigen und erbitterten Antlitz dieses Volkes sowohl Maß wie Übertreibung erkennen, wie auch in diesem erbarmungslosen Sommerhimmel, dem man jede Wahrheit ins Gesicht sagen darf und in den keine trügerische Gottheit die Zeichen der Hoffnung oder der Erlösung geschrieben hat. Zwischen diesem Himmel und den zu ihm aufblickenden Gesichtern ist kein Platz für eine Mythologie, eine Literatur, eine Ethik oder eine Religion, sondern nur für Steine, Leiber und Sterne und für Wahrheiten, die sich mit Händen greifen lassen.
Sich einem Lande verbunden zu fühlen, einige Menschen zu lieben und zu wissen, dass es einen Ort gibt, wo das Herz seinen Frieden findet – lauter Gewissheiten, die viel für das Leben eines Menschen bedeuten, obschon man sich damit zweifellos nicht begnügen kann. Und doch sehnt sich der Mensch zu gewissen Zeiten mit allen Fibern nach dieser Heimat seiner Seele. »Ja, dorthin müssen wir zurückkehren.« Und ist es denn so erstaunlich, dass man diese Vereinigung, die Plotin ersehnte, hier auf Erden findet? Hier verkünden die Sonne und das Meer diese Einheit. Dem Herzen offenbart sie sich mit jenem fleischlichen Beigeschmack,