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als daß man die Sünden anderer auf seine Schultern laden könnte. Jeder lebte sein eigenes Leben und zahlte seinen eigenen Preis dafür. Das einzige Unglück war, daß man für ein einziges Vergehen so oftmals zahlen mußte. Man mußte immer und immer wieder zahlen. In seinem Handel mit dem Menschen glich das Schicksal sein Schuldbuch nie aus.

      Die Psychologen sagen uns, daß es Augenblicke gibt, wo die Anreizung zu Sünden oder zu dem, was die Welt Sünden nennt, eine Natur so beherrscht, daß jede Faser des Körpers, jede Zelle des Gehirns von fürchterlichen Kräften gestachelt zu sein scheint. Männer und Frauen verlieren in solchen Augenblicken die Willensfreiheit. Sie bewegen sich wie Automaten ihrem schrecklichen Ende zu. Die Wahl ist ihnen geraubt, und das Gewissen ist entweder tot oder, wenn es noch lebt, so lebt es nur, um der Empörung ihren Reiz und dem Ungehorsam ihren besonderen Zauber zu verleihen. Denn alle Sünden sind, wie die Theologen nicht müde werden, uns vorzuhalten, Sünden des Ungehorsams. Als jener hohe Geist, der Morgenstern alles Bösen vom Himmel fiel, da fiel er, weil er ein Rebell war.

      Unempfindlich, nur mit dem einen Gedanken ans Böse erfüllt, mit verfinstertem Geist, mit einer Seele, die nach Empörung lechzte, hastete Dorian Gray weiter, und beschleunigte, während er ging, seine Schritte immer mehr; aber als er in einen dunkeln Torweg einbog, der ihm oft genug als abgekürzter Weg zu dem berüchtigten Orte gedient hatte, den er jetzt aufsuchen wollte, fühlte er sich plötzlich von rückwärts gepackt, und bevor er Zeit hatte, sich zu wehren, wurde er gegen eine Mauer geschleudert und fühlte seinen Hals von einer brutalen Hand umklammert.

      Er kämpfte wie wahnsinnig um sein Leben, und mit furchtbarer Anstrengung glückte es ihm, sich aus den umschnürenden Fingern loszureißen. Einen Augenblick darauf hörte er das Knacken eines Revolvers und sah den Glanz eines blanken Laufes gerade gegen seinen Kopf gerichtet und die dunkle Gestalt eines untersetzten Mannes vor sich.

      »Was wollen Sie?« keuchte er.

      »Sei still«, sagte der Mann. »Wenn du dich rührst, schieß' ich dich nieder!«

      »Sie sind toll. Was hab' ich Ihnen getan?«

      »Du hast das Leben Sibyl Vanes zugrunde gerichtet!« war die Antwort, »und Sibyl Vane war meine Schwester. Sie hat sich getötet. Ich weiß es. Ihr Tod ist deine Schuld. Ich habe geschworen, dich dafür zu töten. Jahrelang habe ich dich gesucht. Aber ich hatte keinen Anhaltspunkt, keine Spur. Die zwei Menschen, die dich hätten beschreiben können, waren tot. Ich wußte nichts von dir als den Kosenamen, den sie dir gab. Heute nacht habe ich ihn durch Zufall gehört. Mach' deinen Frieden mit Gott, denn heute nacht mußt du sterben.«

      Dorian Gray wurde fast ohnmächtig vor Furcht. »Ich habe sie nie gekannt«, stammelte er. »Ich habe nie von ihr gehört. Sie sind verrückt.«

      »Gesteh' lieber deine Sünden ein, denn so wahr ich James Vane heiße, so gewiß sollst du jetzt sterben.« Es war ein entsetzlicher Augenblick. Dorian wußte nicht, was er sagen oder tun sollte. »Auf die Knie!« brüllte der Mann. »Ich geb' dir eine Minute, deinen Frieden zu machen – nicht mehr! Ich muß heute nacht an Bord nach Indien, und muß vorher meine Arbeit getan haben. Eine Minute. Mehr nicht!«

      Dorians Arme sanken herab. Von Todesangst gelähmt, wußte er nicht, was er beginnen sollte. Plötzlich zuckte eine jähe Hoffnung in seinem Gehirn auf. »Halt!« schrie er. »Wie lang ist es her, daß Ihre Schwester gestorben ist? Rasch, sagen Sie!«

      »Achtzehn Jahre«, sagte der Mann. »Warum fragst du? Was machen die Jahre?«

      »Achtzehn Jahre!« lachte Dorian mit einem triumphierenden Ton in seiner Stimme. »Achtzehn Jahre! Bringen Sie mich unter die Laterne und sehen Sie mein Gesicht an!«

      James Vane zögerte einen Augenblick und begriff nicht, was er meinte. Dann packte er Dorian Gray und schleifte ihn aus dem Torweg heraus.

      So dunkel und flackernd das windverwehte Licht auch war, es genügte doch, ihm den furchtbaren Irrtum zu zeigen, in den er geraten zu sein schien. Denn das Antlitz des Mannes, den er töten wollte, wies die ganze Blütenweichheit der Jugend auf, zeigte all die unbefleckte Reinheit der Jugend. Er schien kaum älter als ein Jüngling von zwanzig Lenzen, kaum älter, als seine Schwester gewesen war, als sie vor so vielen Jahren Abschied voneinander genommen hatten. Es war klar, daß dies nicht der Mann war, der ihr Leben zerstört hatte.

      Er ließ seine Faust von ihm los und taumelte zurück. »Mein Gott, mein Gott!« rief er aus, »und ich hätte Sie fast ermordet!«

      Dorian Gray schöpfte tief Atem. »Sie waren dicht daran, ein furchtbares Verbrechen zu begehen, Mann«, sagte er mit einem strengen Blick. »Lassen Sie sich das eine Warnung sein, eine Rache nicht mit eigener Hand zu übernehmen.«

      »Verzeihen Sie mir, Herr!« stammelte James Vane. »Ich habe mich täuschen lassen. Ein zufälliges Wort, das ich in der verfluchten Kneipe hörte, brachte mich auf die falsche Spur.«

      »Sie sollten lieber nach Hause gehen und Ihre Pistole wegtun, sonst kommen Sie noch in Ungelegenheiten«, sagte Dorian, drehte sich um und ging langsam die Straße hinunter.

      James Vane stand voller Entsetzen auf dem Pflaster. Er zitterte von Kopf bis Fuß. Nach einer kleinen Weile bewegte sich ein schwarzer Schatten, der längs der regenfeuchten Wand hingeschlichen war, ins Licht hinaus und glitt mit verstohlenen Schritten an seine Seite. Er spürte eine Hand auf seinem Arm und drehte sich mit jähem Ruck um. Es war eines der Weiber, die am Büfett getrunken hatten.

      »Warum hast du ihn nicht umgebracht?« zischte sie und brachte ihr verlebtes Gesicht ganz dicht an das seine. »Ich wußte, daß du ihm folgtest, als du aus Dalys Haus fortranntest. Du Narr!I Du hättest ihn totschlagen sollen. Er hat einen Haufen Geld und ist schlechter als sonst wer.«

      »Er ist nicht der Mann, den ich suche,« antwortete er, »und ich suche keines Menschen Geld. Ich such' eines Menschen Leben. Der Mann, dessen Leben ich suche, muß jetzt an die Vierzig sein. Der da war fast noch ein Knabe. Ich danke Gott, daß nicht sein Blut an meinen Händen klebt.«

      Das Weib stieß ein bitteres Lachen aus. »Fast noch ein Knabe!« höhnte sie. »Wahrhaftig, Mensch, es ist fast achtzehn Jahre her, seit Prinz Märchenschön das aus mir gemacht hat, was ich heute bin!«

      »Du lügst!« schrie James Vane.

      Sie hob die Hände gen Himmel. »Bei Gott, ich sage die Wahrheit!« rief sie.

      »Bei Gott?«

      »Du kannst mich kaltmachen, wenn es nicht so ist. Er ist der Schlechteste von allen, die herkommen. Sie sagen, er hat dem Teufel seine Seele für sein hübsches Gesicht verkauft. Es sind fast achtzehn Jahre, daß ich ihn kennenlernte. Er hat sich seitdem wenig verändert. Ich um so mehr«, fügte sie mit einem traurigen Blinzeln hinzu.

      »Beschwörst du das?«

      »Ich schwöre es«, klang es wie ein heiseres Echo aus ihrem entstellten Munde. »Aber verrate mich ihm nicht«, winselte sie; »ich habe Angst vor ihm. Gib mir 'n paar Groschen zum Nachtquartier.«

      Mit einem Fluch riß er sich von ihr los und stürzte an die Straßenecke; aber Dorian Gray war verschwunden. Als er zurückblickte, war auch das Weib schon weg.

       Inhaltsverzeichnis

      Eine Woche später saß Dorian Gray im Gewächshaus von Selby Royal und plauderte mit der hübschen Herzogin von Monmouth, die sich mit ihrem Gatten, einem ermüdet aussehenden Manne von sechzig Jahren, unter seinen Gästen befand. Es war zur Teezeit, und das sanfte Licht der großen, mit einem Spitzenschleier verhängten Lampe, die auf dem Tische stand, erleuchtete das kostbare Porzellan und das getriebene Silberservice, das neben der Herzogin stand. Ihre weißen Hände machten sich zierlich zwischen den Tassen zu schaffen, und ihre vollen, roten Lippen lächelten über etwas, das ihr Dorian zugeflüstert hatte. Lord Henry lag zurückgelehnt in einem mit Silberseide bezogenen Rohrsessel und sah beide an. Auf einem pfirsichfarbenen Diwan saß Lady Narborough und tat so, als ob sie der Beschreibung des Herzogs zuhörte, die den letzten brasilianischen

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