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Zauber für immer verflogen sein sollte, der sie in vergangenen Sommern zu solchen einsamen Abendstunden oft umfangen hatte. Sie nahm ein dünnes Tuch um die Schultern und begab sich in den Garten. Hier kam allmählich die ersehnte linde Trauer über sie und sie wußte im tiefsten ihrer Seele, daß sie auf diesen Wegen, wo sie so oft mit Ferdinand auf und ab spaziert war, niemals am Arme eines andern Mannes wandeln könnte. Eines aber war ihr in diesem Augenblick über alle Zweifel klar: wenn Ferdinand sie in jenen fernen Tagen beschworen hatte, ein neues Glück nicht zu verschmähen, so hatte ihm gewiß keine eheliche Verbindung mit einem Menschen von der Art des Doktor Teichmann vorgeschwebt; irgendein leidenschaftliches, wenn auch flüchtiges Liebesabenteuer hätte von jenen seligen Gefilden aus viel eher seine Zustimmung gefunden. Und mit leisem Schreck merkte sie, daß es aus ihrer Seele mit einemmal emporstieg wie ein Bild: sie sah sich selbst oben auf der Almwiese im Dämmerschein des Abends in den Armen des Doktor Bertram. Aber sie sah es nur, kein Wunsch gesellte sich bei; kühl und fern, gleich einer Gespenstererscheinung hing es in den Lüften und verging.

      Sie stand am untern Ende des Gartens, die Arme über den Zaunstäben verschränkt, und blickte nach abwärts, wo die Lichter der Ortschaft blinkten. Vom See her tönte der Gesang abendlicher Kahnfahrer mit wundersamer Deutlichkeit durch die stille Luft zu ihr herauf. Neun Schläge kamen vom Kirchturm. Beate seufzte leicht, dann wandte sie sich und ging langsam quer durch die Wiese dem Hause zu. Auf der Veranda fand sie die üblichen drei Gedecke vorbereitet. Sie ließ sich vom Mädchen ihr Abendessen bringen und nahm es ohne rechte Lust zu sich im Gefühl einer nutzlos zerronnenen Traurigkeit. Noch während des Essens griff sie nach einem Buch; es waren die Denkwürdigkeiten des französischen Generals, von denen sie sich heute noch weniger gefesselt fühlte als sonst. Es schlug halb zehn; und da die Langeweile ihr immer quälender ans Herz schlich, entschloß sie sich doch noch, das Haus zu verlassen und die Gesellschaft im Seehotel aufzusuchen. Sie erhob sich, nahm über ihr Hauskleid den langen Rohseidenmantel und machte sich auf den Weg. Als sie unten am See an dem Hause der Baronin vorbeiging, fiel ihr auf, daß es völlig im Dunkel lag; und es kam ihr in den Sinn, daß sie Fortunata schon einige Tage lang nicht gesehen hatte. Ob sie mit dem fernen Kapitän abgereist war? Doch als Beate sich nachher nochmals umwandte, glaubte sie hinter den verschlossenen Läden einen Lichtschimmer zu bemerken. Was kümmerte sie das weiter? Sie achtete nicht darauf.

      Auf der erhöhten Terrasse des Seehotels, dessen elektrische Bogenlampen schon verlöscht waren, im matten Schein von zwei Wandlichtern um einen Tisch gereiht, erblickte Beate die von ihr gesuchte Gesellschaft. Aber ehe sie an den Tisch herankam, in der plötzlichen Empfindung, daß ihr Antlitz in allzu ernsten Falten lag, ordnete sie es zu einem leeren Lächeln. Sie wurde herzlich begrüßt, reichte allen der Reihe nach die Hand, dem Direktor, dem Baumeister, den beiden Frauen und dem jungen Herrn Fritz Weber. Sonst war, wie sie jetzt erst merkte, niemand anwesend. »Wo ist denn der Hugo?« fragte sie etwas beunruhigt. »Aber in dem Augenblick ist er weggegangen«, erwiderte der Baumeister. »Daß Sie ihm nicht begegnet sind«, fügte seine Frau hinzu. Unwillkürlich warf Beate einen Blick auf Fritz, der mit einem verzerrten Dummen-Jungen-Lächeln sein Bierglas hin und her drehte und offenbar absichtlich an ihr vorbeisah. Dann nahm sie Platz zwischen ihm und der Frau Direktor und, um die drohend in ihr aufsteigenden Gedanken zu übertäuben, begann sie mit übertriebener Lebhaftigkeit zu reden. Sie bedauerte sehr, daß die Frau Direktor den schönen Ausflug nicht mitgemacht hatte, fragte nach dem Geschwisterpaar Bertram und Leonie und erzählte endlich, daß sie daheim während des Abendessens in einem französischen Memoirenwerk gelesen habe, das sie fabelhaft interessiere. Sie lese überhaupt nur mehr Lebenserinnerungen und Briefe großer Männer; an Romanen und dergleichen fände sie keinen Gefallen mehr. Es stellte sich heraus, daß es den übrigen Anwesenden nicht anders erginge. »Liebesg’schichten, das ist für junge Leut’,« sagte der Baumeister, »ich mein’ für Kinder, denn junge Leut’ sind wir ja gewissermaßen noch alle.« Aber auch Fritz erklärte, daß er nur mehr wissenschaftliche Werke, am liebsten Reisebeschreibungen lese. Während er sprach, rückte er ganz nahe an Beate, drängte wie zufällig sein Knie an das ihre, seine Serviette fiel herab, er bückte sich, sie aufzuheben und streifte dabei zitternd Beatens Knöchel. Ja, war er denn toll, der Bub? Und er sprach weiter, erhitzt, mit glänzenden Augen: Wenn er erst Doktor sei, werde er sich bestimmt irgendeiner großen Expedition anschließen, nach Tibet vielleicht oder ins innere Afrika. Das nachsichtige Lächeln der übrigen begleitete seine Worte; nur der Direktor, Beate merkte es wohl, betrachtete ihn mit düsterm Neid. Als die Gesellschaft sich zum Heimgehen erhob, erklärte Fritz, er für seinen Teil werde noch einen einsamen Spaziergang am See unternehmen. »Einsam?« sagte der Baumeister. »Das kann man glauben oder auch nicht.« Fritz aber erwiderte, solche nächtlichen Sommerspaziergänge seien seine besondere Passion; erst neulich einmal sei er gegen ein Uhr morgens nach Hause gekommen, und zwar mit Hugo, der gleichfalls ein Freund von solchen Nachtpartien sei. Und als er einen unruhig fragenden Blick Beatens auf sich gerichtet sah, fügte er hinzu: »Es ist ganz gut möglich, daß ich dem Hugo irgendwo am Ufer begegne, wenn er nicht gar auf den See hinausgerudert ist, was auch vorzukommen pflegt.« »Das sind ja lauter Neuigkeiten«, sagte Beate mit mattem Kopfschütteln. »Ja, diese Sommernächte«, seufzte der Baumeister. »Du hast was zu reden«, bemerkte seine Gattin rätselhaft. Frau Direktor Welponer, die den andern voraus über die Stufen der Terrasse hinabging, blieb einen Augenblick stehen, blickte wie suchend zum Himmel auf und senkte dann wieder in einer seltsam hoffnungslosen Weise den Kopf. Der Direktor schwieg. Doch in seinem Schweigen bebte Haß gegen Sommernächte, Jugend und Glück.

      Kaum daß sie alle unten am Ufer angelangt waren, huschte Fritz davon wie zum Spaß und verschwand im Dunkel. Beate wurde von den beiden Ehepaaren heimbegleitet. Langsam und mühselig gingen sie alle den steilen Weg bergauf. Warum ist Fritz so plötzlich davongelaufen? dachte Beate. Wird er Hugo am Ufer finden? Ist er jemals mit ihm nachts auf den See hinausgerudert? Sind sie im Einverständnis? Weiß Fritz, wo Hugo sich in diesem Augenblick befindet? Weiß er? Und sie mußte stehenbleiben, denn es war ihr, als hörte ihr Herz plötzlich zu schlagen auf. Als wüßte ich nicht selber, wo Hugo ist. Als wenn ich es nicht schon seit Tagen wüßte! »Wär’ halt gut,« sagte der Baumeister, »wenn s’ da herauf eine Drahtseilbahn anlegen möchten.« Er hatte seiner Frau den Arm gereicht, was er, soweit sich Beate erinnerte, sonst nie zu tun pflegte. Der Direktor und seine Gattin gingen nebeneinander, in gleichem Schritt, gebeugt und stumm. Als Beate vor ihrer Türe stand, wußte sie mit einemmal den Grund, warum Fritz sich unten davongestohlen. Er hatte es vermeiden wollen, zur Nachtzeit im Angesicht all der andern mit ihr allein in der Villa zu verschwinden. Und sie empfand Dankbarkeit gegenüber der ritterlichen Klugheit des jungen Mannes. Der Direktor küßte Beate die Hand. Was immer dir begegnen mag, so zitterte es jetzt in seinem Schweigen, ich werde es verstehen und du wirst einen Freund an mir haben. — Laß mich in Frieden, erwiderte Beate wortlos wie er. Die beiden Ehepaare trennten sich voneinander. Der Direktor und seine Frau verloren sich mit sonderbarer Hast in das Dunkel, darin Wald, Berg und Himmel verrannen. Arbesbachers nahmen den Weg nach der andern Seite, wo die Gegend freier lag und über gelinden Höhen die sternblaue Nacht sich spannte.

      Als die Türe sich hinter ihr geschlossen hatte, dachte Beate: Soll ich in Hugos Zimmer nachsehen? Wozu? Ich weiß ja doch, daß er nicht zu Hause ist. Ich weiß, er ist dort, wo früher das Licht hinter den geschlossenen Läden hervorschimmerte. Und es fiel ihr ein, daß sie jetzt eben im Heimgehen wieder an jenem Hause vorbeigekommen und daß es ihr ein Haus im Dunkel gewesen war, wie andere auch. Aber sie zweifelte nicht mehr, daß ihr Sohn zu dieser Stunde in der Villa weilte, an der sie gedankenlos und doch ahnungsvoll vorbeigegangen war. Und sie wußte auch, daß sie selbst daran die Schuld trug. Sie, ja sie allein: denn sie hatte es geschehen lassen. Mit jenem Besuch bei Fortunata hatte sie sich eingebildet, aller mütterlichen Pflichten auf einmal ledig zu werden, von da an hatte sie’s gehen lassen, wie es ging; — aus Bequemlichkeit, aus Müdigkeit, aus Feigheit nichts sehen, nichts wissen, nichts denken wollen. Hugo war bei Fortunata in dieser Stunde, und nicht zum erstenmal. Ein Bild erstand in ihr, das sie erschauern machte, und sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, als könnte sie’s auf diese Weise verscheuchen. Langsam öffnete sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Eine Trauer umfing sie, als hätte sie eben von etwas Abschied genommen, das niemals wiederkommen konnte. Vorbei war die Zeit, da ihr Hugo ein Kind, ihr Kind gewesen war. Nun war er ein junger Mann, einer, der sein eigenes Leben lebte, von dem er der Mutter nichts mehr erzählen durfte. Nie mehr wird sie

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