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Nick Tappoli. Jakob Christoph Heer
Читать онлайн.Название Nick Tappoli
Год выпуска 0
isbn 4064066111359
Автор произведения Jakob Christoph Heer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Im Winter konnten die Eltern Hans Bütschi das Geld zurückbezahlen. Der Vater brachte es ihm selber in die Stadt. In der Meinung, Ulrich habe daheim seine anzüglichen Redensarten verraten, entschuldigte sich der Fuhrhalter bei Meister Martin wegen seiner damaligen üblen Laune. So kam der Vater hinter das Geheimnis, das Ulrich für sich hatte behalten wollen. Als er zurückgekehrt war, sprach er mit ihm darüber. »Vor allem bin ich froh, daß du der Mutter nichts von der Beleidigung verraten hast.« Und von der Stunde an schenkte er dem Jungen sein volles Vertrauen, behandelte ihn wie einen Erwachsenen, und wenn er in Stube oder Werkstatt etwas zu beraten hatte, duldete er es, daß der Sohn sein bescheidenes Wort in das der Eltern hineinwarf.
5
Schon war wieder ein Jahr vorübergegangen. An der Rheinhalde weinten die Schosse der frischgeschnittenen Reben und schwellten die Weidenkätzchen.
Da gehörte Ulrich Junghans zu den Armbrustschützen des Städtchens, einer Gesellschaft halbwüchsiger Jugend, die in der Sonntagsfrühe auf einer Wiese am Stromufer mit Bogen und Pfeil in eine Lehmscheibe schoß. Als das »Absenden« kam, das Preisschießen, wurde ihm die beste Gabe zuteil, das von Pfarrer Tappoli gestiftete, schön eingebundene Buch »Lienhard und Gertrud«. Die es ihm vom Gabentisch reichte, war Nick, und ein leises, wohlgefälliges Lächeln spielte ihr dabei um den Mund. Auch wurde er von der Gesellschaft, unter Übergehung einiger reicher Bauernburschen, zum Säckelmeister gewählt. Das Amt war eine jugendliche Ehre, an der sich nicht am wenigsten die Eltern erfreuten. Sie bewies, daß ihm das Städtchen den törichten Flug in die Brombeerstauden verziehen hatte und Zutrauen in seine Redlichkeit setzte.
Noch schöner fügte es sich im Winter, am Bächtoldstag, dem zweiten Januar, an dessen Abend sich die Jungen und Mädchen je nach Neigung und Freundschaft zusammenfinden und einander bei allerlei Spielen die ersten Zeichen der Neigung geben. In der alten geräumigen Stube des Kirchenpflegers und Ehegaumers Jakob Angst waren er und Nick mit einem Dutzend anderer jungen Leute zusammen und saßen eben bei dem Pfänderspiel »Fischlein in den Teich«. Ob es nun aus Zerstreutheit, Übermut oder Absicht geschah, – die sonst hurtige Monika ließ sich von allen am häufigsten fangen und wurde Ulrich, der den Schlingenkünsten des Fischers entging, einen Kuß schuldig. Rot und verlegen wandte sie sich zu ihm hin: »Wenn es wenigstens nicht in der Stube sein müßte!« »Dann gehen wir in den Flur hinaus,« erwiderte er; »aber den Kuß will ich.«
Sie seufzte, folgte ihm unter dem Lachen der andern, und kaum war die Türe hinter ihr zu, küßte sie ihn voll lieblicher Verwirrung, doch mit zusammengepreßten Lippen und flüchtig. Vor Enttäuschung zog er das Gesicht finster. Da stotterte sie: »Uli, ich will ehrlich sein, aber mach die Augen zu.« Er gehorchte, und sie gab ihm mit warmem Mund einen treuherzigen, süßen Kuß. Nun wußte er nicht, wie es kam, er erwiderte ihn und spürte, wie ihre Lippen dabei einen Herzschlag lang leisdurstig an den seinen hingen. »Komm,« drängte sie und mit hochroten Gesichtern traten sie wieder in die Stube. Dann und wann aber glitten ihre Augen noch mit vergnügtem Blinzeln zu ihm hinüber.
Er wußte kaum mehr, was um ihn vorging. Nachdem Nick durch die Magd des Pfarrhauses abgeholt worden war, ging auch er heim, schloß vor Seligkeit kein Auge und spürte immer noch ihren Mund auf dem seinen. Das wonnige Gefühl verließ ihn den ganzen Winter nicht wieder. Eltern und Geschwister wunderten sich über die Güte und Verträglichkeit des Jungen, der vorher oft ein schwer zu behandelnder Groller gewesen war. Besonders lieb begegnete er der Schwester Marie. Vielleicht weil ihm das Herz überfloß, vielleicht weil er hoffte, daß sie ihm eine Brücke hinüber zu Nick schlage, vertraute er ihr sein Erlebnis und seine Liebe.
Sie aber antwortete ihm: »Uli, du tust mir leid. Ein Kuß aus einem Pfänderspiel verpflichtet zu nichts, und ich verwundere mich deines Mutes, die Gedanken zu Nick zu erheben. Wohl gebärden sich der Pfarrer und seine Familie gegen uns, als gehörten sie völlig zum Städtchen, heimlich sind sie aber doch stolze Zürcher Bürger, die sich für besser halten als das Landvolk. So liegt es ihnen nun einmal im Blut. Noch ein Jahr, dann kommt Monika in eine welsche Schule, nachher als Fräulein zu Verwandten in Zürich, ins Theater und auf Bälle. Da wird sich der Zünfter oder der junge Pfarrer, der sie heimführt, schon finden. Die Gedanken von Nick weg, Uli, damit es dir nicht das Herz bricht, wenn es kommt, wie ich dir darlege.«
So Marie, und keiner glaubte er mehr als ihr. Die Schwester war selber ein feines, gescheites Mädchen und besaß die gleiche schlicht überzeugende Art wie die Mutter. Er ließ den Kopf hängen.
Das Leben hatte aber für ihn stets wieder einen Trost. Und jetzt war er schon Konfirmand. Ein strenggläubiger Pfarrer hätte wohl keine Freude an ihm gehabt, denn wie von selber war er durch sein religiöses Nachdenken in mancherlei Widersprüche hineingeraten. Zum Glück für den Zweifler aber war Tappoli einer der milden Pfarrherrn, die den Nachdruck weniger auf die dogmatischen Lehrsätze als auf den dichterischen und sittlichen Feingehalt des Christentums legen. Da vermochte ihm auch Ulrich zu folgen. Als Tappoli im Laufe des Unterrichts auf seine Lieblingsgestalt in der Entwicklung der christlichen Religion, den Apostel Paulus, zu sprechen kam und dem verdorbenen, schlemmenden Rom die Märtyrerkraft des Urchristentums gegenüberstellte, erlebte Ulrich bei ihm wahre Weihestunden innerer Erhöhung. Es empörte ihn, daß es unter den Mitkonfirmanden einige Lümmel gab, die während der Stunden Tappolis, der in der Zucht kein Meister war, zotige Verse unter den Bänken umherboten. Mit der Kraft des jungen Schmieds schuf er aus eigener Machtvollkommenheit Ruhe in den Reihen, und Tappoli spürte seinen guten Einfluß auf die übrigen. Als sie sich einmal unter der Kirchentür begegneten, gab er ihm einen dankbaren Blick. »Es ist doch jammerschad', daß du nicht deinen Gymnasialstudien hast leben können, ich hätt's dir so sehr gegönnt.« Da schlug das Herz Ulis in Feuer und Flammen für den Pfarrer, und seine Gedanken spielten aufs neue um Nick.
Nun war er feierlich in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen.
Er trat aus der Bogenschützengesellschaft aus und wurde Mitglied des Rhein-Fahrvereins, der unter der Führung militärisch ausgebildeter Pontoniere die Lust und Freude an der Rheinschiffahrt pflegte. Jeden Abend probte er mit den andern, meist gesundkräftigem Bauernblut, in den langen, schmalen Kähnen die Fahrt über die Klippen, Sturzwellen und Wirbel des Stromes, der gerade ober- und unterhalb der Brücke aufgeregt über etliche nur beim kleinsten Wasserstand im Winter dem Auge sichtbare Querriffe dahinfloß. Es war eine Unterhaltung des Städtchens, fast die einzige, daß Jung und Alt, namentlich aber die weibliche Jugend, aus den Fenstern der Brücke oder den grünumrankten Lauben der Häuser den Spielen der braunen Gesellen in lebhafter Neugier zuschauten. Leise oder laute Ausrufe der Angst, des Beifalls und der Bewunderung begleiteten ihre Geschicklichkeit und Kühnheit. Denn ungefährlich waren die Übungen nicht, und in traurigem Gedenken stand, daß die »krumme Röhre«, ein starker Wirbel unterhalb der Brücke, einmal drei Jünglinge verschlungen hatte, einen Gekenterten und zwei, die ihm zur Rettung in die Tiefe nachsprangen. Seither waren die Wasserratten etwas vorsichtiger, aber im Übermut der Jugend kam es doch hie und da vor, daß sich einer über die Kante des Bootes schleudern ließ und in den Fluten versank. Atemlose Spannung! Dann tauchte er ein gut Stück weiter unten im Strom wieder auf, schüttelte sich und schwamm ans Ufer. So auch Ulrich. Aus einem Wirbel emporschnellend landete er unmittelbar vor Monika, die mit ein paar Gespielinnen aus den Fenstern des Pfarrhauses auf die Übenden schaute. Ihre dunkeln Sterne blitzten ihn an, und ihr kleiner, roter Mund schalt: »Das tust du nicht wieder, Uli! Herrgott, kannst du einen in Schrecken jagen.« Er lachte: »Und wenn mich jetzt der Rhein behalten hätte? Was dann?« Da rief sie unwillig: »Geh, du Häßlicher!«
Nun war er selig überzeugt, daß sie ihn liebe. Mit den andern trieb er die Schiffe zum Ufer, im weichen Mondlicht der Sommernacht ruhten die Burschen, in den angebundenen Weidlingen sitzend, von der Arbeit aus, und mit doppelter Lust warf er seine metallene, bildsame Stimme in ihre Heimatlieder und ließ sie über den beglänzten Strom und die dunkelragenden Umrisse des Städtchens klingen.
Stets hatte er bei seiner Arbeit etwas Schönes zu denken, jeden Tag war er seines Lebens froh. Um so mehr, da es auch den Eltern