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Nick Tappoli. Jakob Christoph Heer
Читать онлайн.Название Nick Tappoli
Год выпуска 0
isbn 4064066111359
Автор произведения Jakob Christoph Heer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Als er sich vom ersten Staunen darüber erholt hatte, nahm er es nicht mehr schwer und begriff nicht, daß Julia und die Mutter heiße Tränen über das höhnische Benehmen der Pflege vergossen, merkte aber, daß die blasse Nick über diese Wendung hochaufatmete. Am liebsten hätte er die junge, feine Schwägerin auf den Händen getragen, aber da gab es nichts zu drehen und zu deuten, sie war, wenn auch verhalten, seine unversöhnliche Feindin.
Eine Kalesche führte Bürsteler mit seiner Braut aus dem Städtchen ins liebliche Oberland, wo sein Vater wohnte, und hinter ihnen öffnete Monika die Fenster des Hauses, um die Vorfrühlingswinde durch die Räume strömen zu lassen.
»Du bist boshaft,« schalt die Mutter. »Alle Achtung vor Ferdi! Er hat ganz im stillen die vielen alten Bücherrechnungen des Vaters bezahlt. Woher hätten wir das Geld genommen?«
Die betroffene Nick spürte, wie die Armut ins Haus zog und sie durch den vorzeitigen Tod des Vaters selber ein Vöglein auf dem Ast geworden war. Die Unbesorgtheit des Vaters in Gelddingen, die kleine Besoldung, der viele Besuch! Daran lag's! Ausgeträumt war der Plan eines Bildungsjahres im Welschland; die kleine Vermögenshinterlassenschaft reichte nur, um Dietrich durch die begonnenen Studien zu bringen. Sie und die Mutter aber mußten froh sein, wenn sie als Kostgeberinnen eines künftigen Verwesers im alten Heim bleiben durften. Nur dieses nicht räumen müssen!
Im Städtchen wußte man, wie es um die verwaisten Pfarrersleute stand. Die Kirchenpflege kam, zu Ehren des verstorbenen Tappoli, den stillen Wünschen der Witwe entgegen und richtete wieder eine Verweserei ein. Dabei dachte sie auch rücksichtsvoll an Nick. Obwohl sie noch etwas zu jung war, hätte man sie im Städtchen gern als Pfarrersfrau gesehen; man hoffte, einem kommenden Verweser werde es von selber einfallen, dem schönen, gescheiten Mädchen die Hand zu reichen.
Leider wußte Nick der Behörde für die gute Absicht wenig Dank. Als sie durch die Mutter Wind davon bekam, lächelte sie stolz: »Die Kirchenpflege verheiratet mich nicht, das besorge ich schon selber.« »Nick, Nick! Hochmut kommt vor dem Fall,« schmälte die niedergedrückte Frau, die oft ihre Not mit dem siebzehnjährigen Trotzkopf hatte. –
Die Pfarrerin war zur Hochzeit Ferdinands und Julias in dessen Heimat gefahren, Monika mit der Begründung zurückgeblieben, daß jemand zu Hause sein müsse, wenn allenfalls ein neuer Verweser einrücke.
Und er kam – Glorian Rollenbuz! In der brennenden Sonne des Mittags trat er im Winterüberzieher, ein blaues, wollenes Tuch um den Hals, fast ärmlich, ins Pfarrhaus. Der Unterton jedes seiner Worte flehte: »Verzeihen Sie mir tausendmal, daß ich auch auf der Welt bin.« Das nicht mehr junge Männchen mit dem ausgedorrten, pergamentenen Gesicht mutete Nick sogleich komisch an. Als er den dunkeln Filz ablegte, erschien darunter eine dicke, schwarze Mütze, ähnlich der Beulenkappe, die man kleinen Kindern aufsetzt, damit sie sich im Fall nicht verletzen. Er bat um Entschuldigung, daß er sie wegen seiner reizbaren Kopfnerven nicht ablege, der größte Feind seiner Geistesarbeit sei die Luft. Im Vorbeigehen zeigte sie ihm die schöne Bibliothek ihres Vaters, aber er sagte, vor Bedauern zitternd, die Klassiker seien ihm zu modern, er lese überhaupt nur Schriften, die vor der Erfindung der Buchdruckerkunst entstanden seien. Allmählich merkte Nick, daß er im Haupt- oder Nebenberuf Privatgelehrter war.
Als die Mutter von der Hochzeit ihrer Ältesten heimkehrte, war sie überrascht, Monika so hellauf zu finden.
»Ach, wenn du unsere Heuschrecke siehst,« lachte die Tochter, »so vergeht auch dir jede Traurigkeit! Ich glaube, Gott hat uns den Verweser eigens ins Haus geschickt, damit ich wieder fröhlich sein lerne.«
Das Herz der Pfarrerin war aber noch von der Hochzeit voll und mußte sich selber zuerst entladen, ehe sie Anteil an Glorian Rollenbuz faßte: »Und denke dir, Nick, jetzt ist das Paar auf seiner Hochzeitsreise unterwegs nach Paris. Julia in Paris! So weit bringst du es mit deinem Stolz im Leben nicht!«
»Lieber aufs Altjungfernried als mit Ferdinand nach Honolulu!« spottete Nick.
Die Mutter wandte sich von ihr ab und warf durch die Türspalte einen neugierigen Blick nach dem Verweser.
In dem Polsterstuhl, in dem schon ihr seliger Mann seine Predigten studiert hatte, saß das Männchen und hatte das Tageslicht durch eine über das Fenster gezogene Wolldecke abgeblendet. Auf seinem Kopf ruhte die dicke Mütze, über die Stirn war ein großer grüner Lichtschirm, vor die Augen eine mächtige Hornbrille gespannt – dies eben gab ihm das Heuschreckenhafte, von dem Nick gesprochen. Um den Hals hatte er das blaue Wolltuch geschlungen, der Rest seiner Leiblichkeit steckte in einem alten Schlafrock und Schlurfpantoffeln. Auf dem Boden lagen an die hundert Kartonschachteln alphabetisch geordnet, in allen Fächern staken etliche beschriebene Zettel.
Mit einem Seufzer schloß Frau Tappoli die Tür. Ihr war der luft- und sonnenscheue Sonderling zuwider, Nick aber mußte etwas an dem stillverrückten Menschen finden. Sie war geradezu seine Freundin. Dankbar weihte er sie in seine gelehrte Tätigkeit ein, für die er sich Pergamente und Folianten aus mancherlei Ländern kommen ließ. Das Werk, an dem er arbeitete, trug die Überschrift »Die Grundzüge des Ökumenischen Konzils«. Zehn Jahre schon beschäftigte es ihn angestrengt, bereits war es auf fünf Bände angewachsen, er rechnete aber auf noch zehn Jahre und noch fünf Bände, bis die »Grundlinien«, seine Lebensarbeit, vollendet seien, und seufzte dazu: »Wenn es die Kopfnerven nur aushalten!«
»Werden die Bände aber auch gekauft werden?« fragte Nick, seinen Gelehrtenfleiß bewundernd und in leisem Mitleid. »Gekauft? – Wohin denken Sie?« erwiderte er, nicht ohne Selbstbewußtsein. »Ich bin keiner jener armseligen Schriftsteller, die ihre Bücher gern in vielen Händen wüßten. Die ›Grundlinien‹ sind nur für Bibliotheken bestimmt, und ihre Veröffentlichung kostet ein Heidengeld. Dafür haben wir aber in Basel unsere Familienstiftung Rollenbuz.«
Hatte Nick vermutet, daß Herr Glorian heimlich ein armer Schlucker sei, so belehrten sie seine Mitteilungen über die Stiftung vom Gegenteil. Schelmisch fragte sie: »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, ohne daß Sie böse werden? Sie sind mit den Kleidern etwas schäbig dran. Wenn wir aus der Stiftung neue kauften und Ihren gesamten alten Plunder ins Armenhaus verschenkten!« »Liebes Fräulein,« erwiderte er, »diese Dinge liegen tief unter meiner Art. Wenn aber Sie an die Stiftung schreiben wollten?« »Das will ich!« rief sie; »aber werden Sie mir hinaus durch die frische Luft zu einem Schneider oder Schuhmacher folgen?« »Nein, das geht nicht,« stotterte er, »die Luft, die Kopfnerven!« und blickte sie hilflos an wie ein Kind. »Dann könnte ich ja die Handwerker hieher rufen,« meinte sie.
»Fräulein Tappoli, Wohltäterin!« rief er. »Gott hat Sie erleuchtet.« Und Glorian Rollenbuz kam zu neuen Kleidern.
Er war wieder nicht der Pfarrer, den das Städtchen bedurfte. Über seine Predigten ließ sich nicht urteilen. Der Stubenhocker sprach mit einer Flüsterstimme, die niemand verstand. Die Kirchenpflege trug aber doch Bedenken, ihn so einfach wegzuschicken wie Ferdinand Bürsteler. Sein Lebenswandel war einwandfrei, und sie wollte das Städtchen vor den Nachbargemeinden nicht in den Ruf bringen, daß es unverträglich gegen die Geistlichen sei. Wie weit ein Pfarrstreit führen konnte, dafür gab es ein Beispiel nicht fern vom Rhein. In jenem Ort hatten sich die Bürger wegen der Wahl eines Geistlichen so entzweit, daß sie ihrer Meinung über ihn auch sichtbaren Ausdruck gaben. Diejenigen, die sich seiner freuten, steckten rotangestrichene Pfähle zu ihren Reben, die Gegner aber, zum Zeichen der Trauer, schwarze. Von ferne sah man aus den Farben des Weinbergs, wie sich jeder einzelne Bürger zum Geistlichen stellte. Ein solches Kalenderstücklein durfte sich in Eglisau nicht ereignen, und man fand sich mit Glorian ab.
Es kam aber drei Sonntage nacheinander vor, daß niemand seiner unverständlichen Stimme lauschte als Frau Tappoli, Monika, der Vorsänger und der Küster. Da betrübte er sich selber, und nachdem er ein halbes Jahr lang die Leute aus der Kirche gepredigt hatte, nahm er freiwilligen Abschied von dem Städtchen. Nick tat es schier leid um den Sonderling.
Und wiederum erschien ein Verweser. Der sang aber so laut und falsch, daß sich der Vorsänger beleidigt von den Gottesdiensten zurückzog. Nick rettete den Gemeindegesang, indem sie den jungen Geistlichen bat, sich auf das Predigen zu beschränken, und führte mit ihrer hellen Stimme selber die Kirchenlieder