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Nick Tappoli. Jakob Christoph Heer
Читать онлайн.Название Nick Tappoli
Год выпуска 0
isbn 4064066111359
Автор произведения Jakob Christoph Heer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Meister Martin ließ sich halbwegs beruhigen, beherrschte den Zorn und versetzte nur: »Jetzt wird mein Uli entweder etwas ganz Rechtes oder etwas ganz Schlechtes. Wer solche Jugendstreiche begeht, findet den goldenen Mittelweg nie!«
»In Uli liegt bloß das ganz Rechte. Keine Bange, Meister,« erwiderte der Pfarrer in klingendem Brustton.
Die Männer hatten das alte Haus in der Obergasse erreicht und den Verwundeten in die Stube getragen. Da es nichts mehr zu gaffen gab, zerstreuten sich die Neugierigen. »Wir haben in Eglisau wohl schon manche seltsame Leute erlebt,« plauderten sie, »sogar einmal einen, der den ewigen Umgang studierte und darüber irrsinnig geworden ist; aber einen, der fliegen wollte, doch noch nie.« Ein paar Alte hatten aus den Kalendern noch die Geschichte des Schneiders von Ulm im Gedächtnis. Die lief nun durch das Städtchen. »Albrecht Berblingen hieß er und verfertigte nicht bloß Kleider, sondern auch Kinderwägelchen, sowie künstliche Arme und Füße für Verstümmelte. Am 30. Mai 1811 wollte er mit einer selbsterfundenen Maschine im Beisein vieler Zuschauer von der Stadtmauer in Ulm die Donau überfliegen, fiel aber elendiglich in den Fluß. Der König, der eben in der Stadt weilte, schickte dem Narren zwanzig Louisdors zum Trost, der Schneider jedoch wurde darüber nur noch verrückter. Er ließ sich für ein Wachsfigurenkabinett nachbilden und wurde neben anderen berühmten Persönlichkeiten als Spottgestalt in allen deutschen Städten ausgestellt. Damit brachte er viele Schande über die ehrsame Schneiderzunft und seine gesamte Vaterstadt.« So ging die Erzählung.
Einige sagten: »Die Geschichte des Schneiders ist im Schwabenland geschehen. Bei uns in der Schweiz, wo wir klüger sind, weiß bis auf Uli Junghans jedes Kind, daß man das Fliegen den Vögeln überlassen muß. Wenn wir Eglisauer nun bloß seinetwegen nicht auch in den Kalender kommen!« Die meisten aber waren froh, daß in dem stillen Städtchen wieder einmal etwas geschehen war, worüber man bei der Rebenarbeit ausgiebig sprechen, sich sittlich entrüsten und eine Familie bemitleiden konnte. »Der unglückliche Meister Martin! Was wird der noch an seinem zweiten Buben erleben! Und es sind doch rechtschaffene Leute, der Schmied und sein Weib.« –
In der Kammer lag Ulrich während der schönen Sommerszeit. Über das Ende des Schragens lief auf einer Holzrolle ein Seil, das ihm durch ein freihängendes Steingewicht den gebrochenen Fuß streckte, und von der Decke hing wieder ein Strick, an dessen Handhabe er sich notdürftig emporrichten konnte, doch der zerquetschten Schulter wegen nur unter Schmerzen.
Hie und da sahen Mutter, Geschwister, Verwandte und Bekannte nach ihm, und wer aus dem Städtchen kam, erzählte ihm die Geschichte des Schneiders von Ulm. »Hätte ich um den Albrecht Berblinger früher gewußt,« stöhnte er, »so wäre mir der Gedanke an das Fliegen nie gekommen und ich läge nicht so elend darnieder.« Nein, auf seinem unseligen Abenteuer schwebte nicht einmal der Reiz des noch nie Dagewesenen. Und jetzt hatte er schon so oft von Berblinger gehört, in alten Kalendern sein marktschreierisches Bild gesehen, daß er, wenn man ihm davon sprach, die blauen Augen und den blonden Kopf nur noch trübselig und ergebungsvoll gegen die Wand wendete. Noch mehr als unter der närrischen Geschichte aber litt er unter dem grolligen Benehmen des Vaters, an dem er doch mit der Leidenschaft des jungen Herzens hing.
Meister Junghans ärgerte und schämte sich bis auf die Knochen, daß einer seiner Jungen mit dem Gaukler von Ulm im gleichen Atemzug genannt wurde und wohl den Vergleich sein Leben lang tragen mußte. So ungehalten war er darüber, daß er nie in die Kammer des Dulders trat, sich nur gelegentlich bei der Mutter nach seinem Befinden erkundigte, und auch dann noch in einem Ton, als ob er sich mit der Nachfrage etwas an seiner Mannesehre vergebe.
Unter der zürnenden Art des sonst gutherzigen und gerechten Vaters litt nun die gesamte Familie, Ulrich oft bis zu heißen, heimlichen Tränen.
Da war es ihm ein großer Trost, daß neben manchen ihm gleichgültigen Leuten zuweilen auch die schlanke, schmale Nick Tappoli mit dem bildsaubern Köpfchen an seinem Lager erschien. Nie kam sie mit leeren Händen. Sie brachte ihm ein paar Blumen aus dem Pfarrgarten, Frühäpfel oder Pfirsiche, oder aus dem Fruchttrog weiche, gedörrte Birnen, die von weißem Fruchtzucker überlaufen wie Honig schmeckten. Oft mit seiner Schwester Marie, oft allein saß sie bei ihm und plauderte. Und wenn er einmal in Schmerzen zuckte, blinzelten ihm ihre dunklen Augen ermunternd zu: »Wenn du nicht hättest fliegen wollen, so könnte ich auch nicht so dasitzen, dich bemitleiden und bemuttern. Und das ist mir doch ein großes Vergnügen!«
Nick, das heißblütige Wesen, sah Uli fast so gern wie er sie, und er merkte es mit jubelnder Seele.
2
Nick, die mit ihrem eigentlichen Namen Monika hieß, war das Nesthäkchen des Pfarrhauses, ein hageres, zartes Geschöpf, doch von lachender Frische, mit dunkeln Augen und krausen Locken, noch eckig und zehnjährig kinderhaft in ihren Bewegungen, aber in allem, was sie tat, voll heimlichen Feuers. Fragte man sie, was sie im Leben werden wolle, erwiderte sie mit nachdrücklichem Ernst: »Eine Mutter!«
An dieser Antwort war nun nichts Besonderes. Wie viele kleine Mädchen mögen so denken und reden! Das Besondere war das warme Zugreifen, mit dem Nick den mütterlichen Trieb betätigte. Wenn die Frauen des Städtchens in den sonnenheißen Reben arbeiteten, sammelte sie die kleinen Kinder im Pfarrhof und von der Höhe des Studierzimmers hatte Tappoli Gelegenheit, ihr Pflegerinnentalent zu beobachten und darüber zu lachen. Namentlich aber hatte es ihm ein Streich der Jüngsten angetan.
Jenseits der Rheinbrücke hauste eine Korberfamilie im Blachenwagen. Die Frau kam nieder und zwar mit Zwillingen. In einer Kiste, die der Mann eilig bei einem Krämer geholt hatte, ruhten die beiden Kindlein auf Stroh. Sie sehen, heimlaufen und den Leuten für die Kleinen heimlich das Kopfkissen vom eigenen Bett bringen, war bei Nick eins. Darauf aber kam das schlechte Gewissen. Nick war nun jeden Morgen die erste, die aufstand, machte ihr Bett selbst und ließ sich von der Mutter die feurigen Kohlen unverdienter Lobsprüche auf das Haupt legen. Als aber die Wäsche gewechselt wurde, kam das Verschwinden des Kissens an den Tag. Noch schwieg die Schelmin, bis die Mutter ein armes Weib, das beim Vater vorgesprochen hatte, des Diebstahls verdächtigte. Da beichtete das Kind.
Die Mutter mochte schelten, Tappoli liebte den Schlingel. Gewiß auch die andern Kinder, den Gymnasiasten Dietrich, der dann und wann über Sonntag mit Freunden aus Zürich herüberkam, und Julie, die Erstgeborene, die in der Haushaltung schon eine große Stütze der etwas kränkelnden Mutter bildete; aber er spürte, wie Nick ein seelisch tieferes Leben führte als die beiden.
Sein besonderes Wohlgefallen an der Jüngsten stammte aber noch aus einer anderen Quelle. Ihr Anblick erinnerte ihn stets an seine Vorfahren, um des Glaubens willen vor dreihundert Jahren aus ihrer Heimat vertriebene Locarnesen, die sich durch den Hochwinter der Alpen schlugen und in Zürich eine zweite Heimat fanden. Allmählich hatten sich die Tappoli verdeutscht, sich mit der Stadt aufs innigste verwachsen, ihr manchen Magistraten und Kriegsmann von Ruf, namentlich aber viele Pfarrer gestellt. Er selber liebte Zürich mit warmem Bürgerstolz, doch gefiel ihm, daß irgendein Zug im Wesen Nicks, vor allem der in alemannischen Landen ungewöhnlich feine Gesichtsschnitt, das südliche Blut der Voreltern wieder zur Erscheinung brachte. Das Krausköpfchen zu belauschen, die späte, seltene Blume aus der Stammheimat jenseits der Berge, bildete die besondere Würze seines pfarrherrlichen Stillebens.
Als Nick nun Tag um Tag zu dem seit seinem Unfall immer noch leidenden Ulrich Junghans lief, fragte er sie einmal: »Und hast du über ihm deinen Freund Gerold von Jaberg ganz vergessen?« Sie sperrte die dunkeln Augen groß auf. »Nein, ich gehe und lade ihn ein, daß er