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Gesammelte Werke. Isolde Kurz
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke
Год выпуска 0
isbn 9783962812515
Автор произведения Isolde Kurz
Жанр Языкознание
Серия Gesammelte Werke bei Null Papier
Издательство Bookwire
Und unter Blumen senkten wir ihn droben ein,
Wo von dem Wall, den Michelangelo gebaut,
Ein stiller Garten niederblickt aufs Arnotal,
Ein weltvergess’nes Plätzchen, recht für den gemacht,
Der wie ein flüchtiger Gast aus andern Welten kam. – – –
*
Die Tage, die auf diesen Auszug folgten, sind mir in einer dunklen und dumpfen Erinnerung. In der Frühe nach der Sterbenacht war Alfred aus Venedig angekommen, verzweifelt, den kleinen Bruder nicht mehr zu finden, den er wie einen eigenen Sohn geliebt hatte. Nun warf sich seine wilde Angst auf die Mutter, wie sie es tragen würde. Ich war im gleichen Fall wie er, denn allzuoft hatten wir sie sagen hören, dass sie Baldes Tod nicht würde überleben können. Wie sehr irrte sie sich und wir mit ihr! Als der Fall eintrat, hatte sie nicht einen Augenblick der Schwäche. Ihre unverwüstliche Lebenskraft trieb sie gleich zu neuen Taten der Treue. Wie unsere siebzigjährige Josephine, die an den Folgen eines leichten Schlaganfalls darniederlag, sich heimlich erhob, um den geliebten Jüngsten noch einmal zu sehen, aber vor seinem Sarg an einem zweiten Anfall zusammenbrach, wie meine Mutter dadurch aus ihrem Schmerz gerissen wurde und sich jetzt mit Selbstverständlichkeit der Pflege ihrer eigenen früheren Pflegerin widmete, habe ich in ihrer Lebensgeschichte erzählt. »Heldenhaft« pflegt man ein solches Verhalten zu nennen oder »opferselig« – es gibt so wenig Bezeichnungen für eine außergewöhnliche Natur. Diese beiden passten nicht: sie wusste so wenig von Heldentum wie von Opfer, ihr Tun war ihr natürlich wie der Gebrauch ihrer Gliedmaßen. Man musste sie ganz gewähren lassen, es war gut für sie. Der einzige, der sie an dieser neuen Darbringung hindern wollte, war Alfred, der mit der gleichen Leidenschaft wie ich, nur ohne alle Überlegung, an der Mutter hing. Sie zu verlieren war auch ihm der furchtbarste aller Gedanken; noch in seinen reifen Mannesjahren äußerte er wiederholt, dass er es eher ertragen könnte, eines seiner Kinder sterben zu sehen als die Mutter. Auch in der Denkart war er am abhängigsten von ihr; mit wahrem Staunen fand ich einmal spät nach beider Hingang einen Brief von ihm an sie, wo er schrieb, dass der Fremdenmangel in Venedig zu einer bedenklichen Flaute in seiner Praxis und somit auch in seinen Einnahmen geführt habe (ein Zustand, der bei dem schlechten Wirtschafter kein seltener war), dass ihm aber jetzt die Behandlung einer Fürstlichkeit in Aussicht stehe. Und der Sohn bittet die Mutter um die grundsätzliche Weisung, wie er sich in solchem Falle zu verhalten habe, indem er ganz kindlich hinzufügt, die Sache wäre ja sehr nützlich, »wenn Du es aber nicht willst, so tue ich es nicht«. Von einem zahmen Muttersöhnchen brauchte das nicht wunderzunehmen, aber bei dem tollen Patron, der Alfred zeitlebens war – das nachwachsende Geschlecht nannte ihn nicht anders als den Zio matto –, hatte solche aus innerstem Herzenstrieb geborene Unterwerfung unter die Maßgeblichkeit des mütterlichen Willens etwas beinahe Prähistorisches, wie ein Nachklang aus jenen Zeiten des Mutterrechts. Er suchte damit unbewusst gutzumachen, was er in seiner wilden Knabenzeit an ihrer Seelenruhe gesündigt hatte, aber manchmal machte es geradezu den Eindruck, als ob zwischen diesem Sohn und der Mutter die Nabelschnur noch gar nicht zerschnitten sei. Die Fürsorge, mit der er sie zu umgeben suchte, war ebenso rührend wie bedrängend, weil nicht auf ihr Temperament berechnet, denn Mama gehörte zu den Menschen, die sich durchaus nicht päppeln lassen, solange sie sich selber regen können. Die Kissen, die er ihr in den Rücken stopfte, die Schals, die er um ihre Schultern legte, flogen nur so in die Luft; ein Schemel, unter die Füße geschoben, konnte sie wild machen. Dass er ihr in jenen traurigen Tagen durchaus mehr Nahrung aufnötigen wollte, als sie gewohnt war und hätte ertragen können, führte zu einem beständigen Kampf zwischen ihm und mir. Der Arzt, der so liebevoll verständig mit seinen fremden Patienten umging und gerade die kleinen Dinge so gut verstand, dass er am Krankenbette fast noch wohltuender erschien als sein genialer, stets aufs Ganze gehender Bruder, verlor, wenn es sich um die heißgeliebte Mutter handelte, alle Einsicht. Er ging in die Küche und köchelte selbst mit vielem Aufwand von Eiern, die sie nicht leiden konnte, und Wein, woran sie nicht gewöhnt war; ich musste versprechen ihr das alles beizubringen und goss es natürlich in der Stille weg. Es war ja eben ihre frugale, ja geradezu asketische Lebensweise, die ihr bis ins fünfundachtzigste Jahr hinein über alle Leiden des Körpers und der Seele hinweg ihre wunderbare Spannkraft erhalten sollte. Durch längere Zeit glaubten wir alle, die große Fassung die sie zeigte sei trüglich, und fürchteten einen plötzlichen Niederbruch. Alfred getraute sich gar nicht in sein Venedig zurück und hielt mit seinem aufgeregten und aufregenden Eifer das ganze Haus in Atem. Ich hatte Mama von dem Toten weg in mein Zimmer geholt, Alfred drängte mich hinaus und setzte sich in den Kopf, selber bei ihr wachen zu wollen, wozu er nicht imstande war, weil der Wille bei ihm nicht Herr wurde über die Erschöpfung. Er sank denn auch gleich auf meinem Bett in schweren Schlaf. Keine Möglichkeit ihn zu wecken und aus dem Zimmer zu entfernen, wo seine Gegenwart nur hinderlich war. Ich sehe mich selber stehen, wie ich, weil kein Anruf half, ihn in den Armen aufhob und, weil er immer wieder zurückfiel, ihn schließlich in der hellen Verzweiflung an seinen kurzen starken Haaren in die Höhe zog, worüber er am Ende zu sich kam, auch nicht im geringsten beleidigt war, das treue Herz, sondern sich gern überreden ließ, in sein eigenes Bett zu gehen. An einem der nächsten Abende erbot sich Erwin, der wieder einmal vorübergehend im Haus wohnte, zur Nachtwache. Aber er hatte davon seine eigene Vorstellung, denn er brachte gleich seine Matratze mit herein, die er auf den Boden legte und sich darauf, um in die Decke gewickelt sogleich wie sein Bruder in unerwecklichen Schlaf zu fallen, worüber sogar die kranke Josephine im Nebenzimmer lachte. Ich machte bei dieser Gelegenheit die oftmals wiederholte Erfahrung, um wie viel schwerer es dem männlichen Geschlechte fällt sich ohne eisernen Zwang von oben her, wie ihn der Soldat gewöhnt ist, des Schlafs zu erwehren; schon die Jünger am Ölberg haben das bewiesen. Von den Brüdern hatte nur Edgar so feine und feste Nerven, um es an Überwindung der körperlichen Bedürfnisse und an unbegrenzter Fähigkeit des Wachbleibens den Frauen des Hauses gleichzutun. Er hatte in der traurigen Zeit unsre Wachen geteilt und dazu das Schwerste, die Verantwortung, getragen als starke Führernatur, die er bis zu seinem Ende bleiben sollte.
1 Eine Gestalt aus meinem »Jugendland« <<<
2 Man lacht nicht mehr, wenn man verheiratet ist <<<
Siebtes Kapitel – Der Weg