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Lie­be, son­dern fast mehr noch durch eine tie­fe künst­le­ri­sche Freu­de le­ben­dig ge­blie­ben. Ich habe sei­ne zar­te Schön­heit in ver­schie­de­nen Ge­stal­ten mei­ner Dich­tun­gen wie­der auf­le­ben las­sen. So als Olaf Han­sen in dem Ro­man »Der De­spot« und vor al­lem in der No­vel­le »Ge­ne­sung«, wo er mit sei­nen per­sön­li­chen Be­son­der­hei­ten, wenn auch in er­fun­de­nen Ver­hält­nis­sen und in ei­ner an­de­ren Um­ge­bung dar­ge­stellt ist. Ich woll­te ihn als Wal­ter Frie­se mit dem Aben­teu­er auf der La­gu­ne ein letz­tes hol­des Glück fin­den las­sen, wie dem Ar­men in der Wirk­lich­keit kei­nes zu­teil ge­wor­den ist. Ach, nur die Ge­schöp­fe der Poe­sie dür­fen am Glück ster­ben, von de­nen der Wirk­lich­keit for­dert die Na­tur den her­ben We­ge­zoll.

      Sei­ne letz­ten Tage ver­schlin­gen sich mit ei­nem an­dern Ster­ben zu ei­nem be­son­ders düs­te­ren Aus­schnitt aus mei­nen Erin­ne­run­gen.

      *

      Nach dem Weg­zug mei­ner rus­si­schen Freun­din­nen hat­te eine ver­wit­we­te Eng­län­de­rin, Mrs. He­len Wil­kin­son, die Woh­nung ne­ben der uns­ri­gen inne. Sie war eine Vier­zi­ge­rin von schmieg­sa­mem We­sen, dun­kel­haa­rig, nicht hübsch, doch von ge­fäl­li­ger Er­schei­nung, und wuss­te sich auf eine takt­vol­le Wei­se den Men­schen an­ge­nehm zu ma­chen. Ich hat­te sie schon zu­vor als Pa­ti­en­tin mei­nes Bru­ders in ei­nem der Ne­ben­häu­ser am Via­le ken­nen­ge­lernt, wo sie an Diph­the­rie er­krankt und von ih­rem Mäd­chen aus An­ste­ckungs­furcht im Stich ge­las­sen wor­den war. Man hat­te da­mals nicht so leicht wie heu­te Pfle­ge­rin­nen und barm­her­zi­ge Schwes­tern an der Hand; weil Not an Mann ging, hat­te Ed­gar, der wuss­te, dass ich nicht furcht­sam war, mich ge­be­ten auf ei­ni­ge Tage hin­über­zu­zie­hen und ihr bei­zu­ste­hen. Bei die­ser Ge­le­gen­heit schloss sie sich mir tief­be­dürf­tig an, und wir pfleg­ten uns auch nach ih­rer Ge­ne­sung noch häu­fig zu se­hen. Sie war au­gen­schein­lich eine Frau mit un­glück­li­cher Ver­gan­gen­heit, de­ren sie kei­ne Er­wäh­nung tat; man er­fuhr nur spä­ter von ih­ren Lands­leu­ten, dass ihr Gat­te auf der Hoch­zeits­rei­se wahn­sin­nig ge­wor­den sei und den gan­zen Rest sei­nes Le­bens im Ir­ren­haus ver­bracht habe. Ka­tho­li­kin, in ei­nem eng­li­schen Klos­ter er­zo­gen, wo es noch stren­ger her­ging als in den Klös­tern ka­tho­li­scher Län­der, hat­te sie einen un­ge­wöhn­lich en­gen Ho­ri­zont und äu­ßerst be­schränk­te Kennt­nis­se auf al­len geis­ti­gen Ge­bie­ten; man konn­te kaum über ir­gend­ei­nen hö­he­ren Ge­gen­stand mit ihr spre­chen, ohne von ih­rer Un­wis­sen­heit über­rascht zu wer­den. So hat­te man ihr un­ter an­de­rem vor ih­rem Ein­tritt in die Welt aufs schärfs­te ein­ge­prägt, ja der teuf­li­schen lu­the­ri­schen Er­fin­dung kei­nen Glau­ben zu schen­ken, als ob je­mals ein un­wür­di­ger Papst auf Pe­tri Stuhl ge­ses­sen hät­te, und dar­an hielt sie auch ge­wis­sen­haft fest, was im­mer man ihr vom Ge­gen­teil er­zäh­len moch­te. In spä­te­ren Le­bens­jah­ren spürt wohl nie­mand den Drang, sol­che kind­li­che Ein­stel­lun­gen be­rich­ti­gen zu wol­len, nach­dem sie schon ein Men­schen­al­ter hin­durch in ei­nem denk­schwa­chen Hirn ge­nis­tet ha­ben. Aber in den Zwan­zi­gen hat man so viel Zeit und Kraft, dass man nir­gends un­mög­li­che Auf­ga­ben sieht. Wir hat­ten also lan­ge Aus­ein­an­der­set­zun­gen über die­se und an­de­re Fra­gen, wenn ich mich auch hü­te­te ir­gend an ihre re­li­gi­ösen Dog­men als an ihre un­ver­rück­ba­re Grund­la­ge zu rüh­ren; die­se wa­ren mir im­mer und über­all un­an­tast­bar. Nur auf ge­schicht­li­chem Bo­den such­te ich ihre Irr­tü­mer zu wi­der­le­gen. Da­für gab sie mir ihre Li­te­ra­tur in die Hand, und mir graus­te vor den Schreck­nis­sen, wor­ein die arme ge­quäl­te See­le schon im vor­aus für den Fall des ge­rings­ten Zwei­fels ver­strickt und ver­spon­nen war. Jede Ein­rich­tung hat ihre ed­len und ihre un­ed­len Ver­tre­ter. Ich habe spä­ter­hin sehr ver­eh­rungs­wür­di­ge ka­tho­li­sche Geist­li­che ken­nen­ge­lernt, die mei­ne da­mals von dem gan­zen Stand ge­fass­te Mei­nung gänz­lich um­s­tie­ßen. Von den Beicht­vä­tern mei­ner ar­men He­len Wil­kin­son muss ich sa­gen, dass sie lei­der zu der an­dern Gat­tung ge­hör­ten. Ge­gen die An­fech­tun­gen ih­res Blu­tes setz­ten sie ihr mit den här­tes­ten Bu­ßen zu, die ih­ren von Haus aus schwa­chen Kopf ins Wan­ken brach­ten und ihr hin­fäl­li­ges Ner­ven­sys­tem bis zur Hys­te­rie auf­peitsch­ten. Als ich sie zu­erst ken­nen­lern­te, schlief sie in kei­nem Bet­te, son­dern auf ei­nem nie­de­ren höl­zer­nen Schra­gen, der ne­ben ih­rem La­ger stand, nicht brei­ter als ein Sarg; sie durf­te sich nie­mals ganz satt es­sen und trank da­für, um sich, wie sie mein­te, bei Kraft zu hal­ten, Tag und Nacht star­ken Tee. Dass ihr Beicht­va­ter ihr, um sie von welt­li­chen Ge­dan­ken zu ent­wöh­nen, die Bril­lant­rin­ge von den Fin­gern ge­zo­gen hat­te, er­zähl­te sie spä­ter zwar nicht mir, aber mei­ner Mut­ter. Als Ed­gar von dem Schra­gen hör­te, schick­te er ihn ohne wei­te­res zum Zu­sam­menschla­gen und Feu­er­an­zün­den in die Kü­che, nö­tig­te sie mehr Nah­rung zu sich zu neh­men und un­ter­sag­te ihr den Tee. Mit der Si­cher­heit sei­nes Auf­tre­tens und sei­nem mensch­li­chen Ver­ste­hen, nicht zu­letzt mit sei­ner großen per­sön­li­chen An­zie­hungs­kraft mach­te er sol­chen Ein­druck auf sie, dass sie sich ganz in sei­ne Lei­tung gab und ihm mit un­be­grenz­ter Gläu­big­keit an­hing. Ge­kräf­tigt durch sei­nen männ­li­chen Ein­fluss, fass­te sie Mut, sich ih­rer Pei­ni­ger zu er­weh­ren: als sie zum letz­ten­mal nach Fie­so­le hin­auf­wan­der­te, um sich von ei­nem ho­hen Geist­li­chen zu ver­ab­schie­den, der bis da­hin ihr Ge­wis­sen ge­lenkt hat­te und jetzt ab­be­ru­fen war, reich­te ihr die­ser ein Ge­schenk, von dem er sag­te, dass sein flei­ßi­ger Ge­brauch ihr sehr zu­stat­ten kom­men wür­de. He­le­ne wi­ckel­te es aus dem Pa­pier: es war eine Gei­ßel! Da raff­te sich in ihr die lan­ge miss­han­del­te Wür­de em­por, sie leg­te das Ge­schenk mit den Wor­ten: I did not ask for tat auf den Tisch und emp­fahl sich für im­mer.

      Nach die­sem Akt der Re­bel­li­on kam auf ein­mal ihr gan­zes We­sen in sie­den­de Gä­rung: ihre dar­ge­brach­ten Op­fer schie­nen ihr sinn­los und ins Lee­re ge­wor­fen. Nicht mit in­ne­ren Geis­tes­kämp­fen, wo­für ihre Denk­kraft viel zu schwach war, son­dern mit ei­nem jä­hen Ruck, völ­lig trieb­mä­ßig, warf sie al­les bis­her für wahr Ge­hal­te­ne von sich. Dass es Men­schen gab, die das Rech­te wol­lend ih­ren Weg den­noch ohne Zer­knir­schung und Selbst­zer­flei­schung gin­gen, das lös­te ihre Grund­an­schau­ung auf. Aber zu­gleich mit der Be­frei­ung kam ein gren­zen­lo­ser Jam­mer über sie. Ich hör­te, jung und le­ben­su­ner­fah­ren, wie ich noch war, mit mit­lei­di­gem Schau­der die Not­schreie der ver­zwei­fel­ten See­le um eine ver­säum­te Ju­gend, ein nicht­ge­leb­tes Le­ben: Was hab ich jetzt? Es ist zu spät ge­wor­den. Gebt mir die schö­nen Jah­re wie­der! klag­te sie un­auf­hör­lich. Von al­lem Bis­he­ri­gen in­ner­lich los­ge­ris­sen, klam­mer­te sie sich nur um so fes­ter an ih­ren Arzt, an mich und, als sie sie ken­nen­lern­te, erst recht an un­se­re Mut­ter. So­bald die Ne­ben­woh­nung frei ge­wor­den war, zog sie dort­hin; sie ließ so­gar eine frü­her vor­han­de­ne, spä­ter zu­ge­mau­er­te Ver­bin­dungs­tü­re zwi­schen den bei­den Woh­nun­gen wie­der öff­nen und husch­te mehr­mals des Ta­ges her­über, um mei­ner Mut­ter bei­zu­ste­hen, mit Bal­de Do­mi­no zu spie­len oder sich sonst­wie nütz­lich zu ma­chen. Doch er­kal­te­te das Ver­hält­nis zwi­schen uns zwei­en ein we­nig, denn ich ent­deck­te, dass ihr Wohl­wol­len für mich doch nicht ganz auf­rich­tig und ihr Cha­rak­ter auch nicht frei von Zü­gen weib­li­cher Klein­lich­keit war.

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