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werden möge. Auf morgen!« fügte er hinzu und verabschiedete mich mit einer vielsagenden Gebärde. Von dem Tage an weihte mein Vater mich freimütig in alle seine Pläne ein. Ich war der einzige Sohn, und ich hatte meine Mutter schon vor zehn Jahren verloren. Mein Vater, Haupt eines alten, fast vergessenen Adelsgeschlechts aus der Auvergne, fand das Recht, mit dem Degen an der Seite seinen Kohl anzubauen, wenig schmeichelhaft und war seinerzeit nach Paris gekommen, um da den Kampf mit dem Teufel aufzunehmen. Begabt mit jener feinen Schläue, die, wenn sie mit Energie gepaart ist, die Männer aus dem Süden Frankreichs so überlegen macht, war es ihm ohne besondere Unterstützung gelungen, im Herzen der Macht eine Position zu erringen. Bald darauf vernichtete die Revolution sein Vermögen; er hatte es jedoch verstanden, die Erbin eines großen Hauses zu heiraten, und hatte sich unter dem Kaiserreich in der Lage gesehen, unserem Haus seinen einstigen Glanz wiederzugeben. Die Restauration, welche meiner Mutter beträchtliche Güter zurückgab, ruinierte meinen Vater. Da er ehemals mehrere im Ausland gelegene Güter gekauft hatte, die der Kaiser seinen Generalen geschenkt hatte, schlug er sich seit zehn Jahren mit Liquidatoren und Diplomaten, mit preußischen und bayerischen Gerichtshöfen herum, um sich den umstrittenen Besitz der unglückseligen Schenkungen zu erhalten. Mein Vater stürzte mich in das unentwirrbare Labyrinth dieses weitreichenden Prozesses, von dem unsere Zukunft abhing. Man konnte uns verurteilen, die Einkünfte, sowie den Preis für bestimmte Holzschläge, die von 1814 bis 1816 erfolgt waren, zurückzuerstatten; in diesem Fall hätte das Vermögen meiner Mutter kaum gereicht, die Ehre unseres Namens zu retten. An dem Tage also, da mein Vater mich in gewisser Hinsicht selbständig gemacht zu haben schien, verfiel ich dem unerträglichsten Joch. Ich mußte wie auf einem Schlachtfeld kämpfen, Tag und Nacht arbeiten, Staatsmänner aufsuchen, ihre Meinung ausforschen, sie für unsere Sache zu interessieren suchen, ihnen, ihren Frauen, ihren Dienern, ihren Hunden schmeicheln und dieses abscheuliche Tun unter eleganten Formen, unter angenehmen Scherzen verbergen. Nun begriff ich den Kummer, der das Gesicht meines Vaters mit Runzeln gefurcht hatte. Ein Jahr lang ungefähr führte ich also scheinbar das Leben eines Mannes von Welt; aber hinter diesen Zerstreuungen und meinem Eifer, mit einflußreichen Verwandten und Leuten, die uns nützen konnten, in Verbindung zu treten, verbarg sich unendliche Mühsal. Sogar meine Vergnügungen waren noch Plädoyers und meine Gespräche Eingaben. Bis dahin war ich tugendhaft gewesen, weil es mir unmöglich war, meinen jugendlichen Leidenschaften nachzugehen; nun aber, da ich fürchtete, durch ein Versäumnis meinen und meines Vaters Ruin zu verursachen, wurde ich mein eigener Despot und gestattete mir weder ein Vergnügen noch eine Ausgabe. Wenn wir jung sind, wenn uns die Menschen und Dinge noch nicht so tief verletzt haben, daß jene zarte Blüte des Gefühls in uns zerstört ist, jene Frische des Gedankens, die edle Reinheit des Gewissens, die sich immer gegen das Böse auflehnt, fühlen wir unsere Pflichten; unsere Ehre spricht laut und fordert Gehör; wir sind offen und ohne Falsch: so war ich damals. Ich wollte das Vertrauen meines Vaters rechtfertigen. Vordem hätte ich ihm mit tausend Freuden einen jämmerlichen Betrag entwendet; aber seitdem ich die Last seiner Geschäfte, seines Namens, seines Hauses mit ihm trug, hätte ich insgeheim mein Erbe, meine Hoffnungen für ihn hingegeben, so wie ich ihm meine Vergnügungen opferte und glücklich über dieses Opfer war. Als dann auch noch Monsieur de Villèle eigens für uns ein kaiserliches Dekret über den Verfall der Schenkungen ausgrub und uns damit ruiniert hatte, unterzeichnete ich den Verkauf meiner Güter und behielt nur eine wertlose, inmittten der Loire gelegene Insel, auf der sich das Grab meiner Mutter befand. Heute würde es mir wahrscheinlich nicht an Argumenten, Ausflüchten, philosophischen, philanthropischen und politischen Beweisführungen fehlen, um dem, was mein Advokat eine »Dummheit« nannte, zu entgehen; aber mit einundzwanzig Jahren sind wir, ich wiederhole es, ganz Großmut, ganz Eifer, ganz Liebe. Die Tränen, die ich in den Augen meines Vaters sah, waren damals für mich das schönste aller Güter, und die Erinnerung an diese Tränen hat mich in meinem Elend oft getröstet. Zehn Monate, nachdem mein Vater seine Gläubiger bezahlt hatte, starb er vor Gram. Er liebte mich über alles und hatte mich ruiniert; dieser Gedanke tötete ihn. Im Jahre 1826, zweiundzwanzig Jahre alt, gegen Ende des Herbstes, folgte ich ganz allein dem Sarg meines ersten Freundes, meines Vaters. Nur wenige junge Leute sind wohl je so allein mit ihren Gedanken, so verloren in Paris, ohne Zukunft, ohne Vermögen hinter einem Leichenwagen hergegangen. Die Waisen, deren sich die öffentliche Wohltätigkeit annimmt, haben wenigstens das Schlachtfeld als Zukunft, die Regierung oder den königlichen Prokurator zum Vater, das Waisenhaus als Zuflucht. Ich hatte nichts! Drei Monate später händigte mir ein Auktionator 1112 Francs aus, der Reinerlös der väterlichen Erbschaft. Gläubiger hatten mich gezwungen, unser Mobiliar zu verkaufen. Von Jugend auf daran gewöhnt, einen großen Wert auf die Luxusgegenstände zu legen, die mich umgaben, konnte ich mich nicht enthalten, ein gewisses Erstaunen über diesen geringfügigen Ertrag zu äußern. – »0h!« sagte der Auktionator, »das war alles schon sehr »altmodisch«!« Schreckliches Wort, das den Glauben meiner Kindheit zerstörte und mir die ersten Illusionen, die liebsten von allen, raubte. Mein Vermögen belegte ein Auktionsverzeichnis, meine Zukunft ruhte in einem Leinenbeutel, der 1112 Francs enthielt, die Gesellschaft erschien mir in der Gestalt eines Taxators, der den Hut aufbehielt, wenn er mit mir redete. Ein Kammerdiener namens Jonathas, der mich ins Herz geschlossen hatte und dem meine Mutter einst 400 Francs Leibrente ausgesetzt hatte, sagte zu mir, als wir das Haus verließen, aus dem ich in meiner Kindheit so oft fröhlich im Wagen fortgefahren war: »Seien Sie recht sparsam, Monsieur Raphael.« Er weinte, der gute Mann.

      Dies, mein lieber Émile, sind die Ereignisse, die mein Geschick bestimmten, meine Seele formten und mich so jung noch in die schwierigste Lage brachten«, sagte Raphael nach einer Pause. »Es bestanden zwar familiäre Bande, wenngleich schwache, zu einigen reichen Häusern, doch hätte ich diese schon aus Stolz nicht betreten, wenn nicht Geringschätzung und Gleichgültigkeit mir bereits ihre Türen verschlossen hätten. Obwohl mit sehr einflußreichen Persönlichkeiten verwandt, die ihre Gunst an Fremde verschwendeten, hatte ich weder Verwandte noch Gönner. Da meine Seele, sobald sie sich aufschließen wollte, immerfort zurückgestoßen wurde, hatte sie sich ganz in sich selbst zurückgezogen. So freimütig und offenherzig ich auch war, mußte ich doch kalt und verschlossen erscheinen; die Tyrannei meines Vaters hatte mir jedes Selbstvertrauen geraubt. Ich war schüchtern, linkisch; ich glaubte nicht, daß meine Stimme das geringste Gehör finden könnte. Ich mißfiel mir, ich fand mich häßlich, ich schämte mich meines Blicks. Trotz der inneren Stimme, die begabte Menschen in ihren Kämpfen aufrechterhält und die mir zurief: »Mut! Vorwärts!«; trotzdem sich meine Kraft mir in der Einsamkeit plötzlich offenbarte; trotz der Hoffnung, die mich belebte, wenn ich die vom Publikum bewunderten neuen Werke mit denen verglich, die mir in meiner Phantasie vorschwebten, zweifelte ich an mir wie ein Kind. Ich war von einem übersteigerten Ehrgeiz besessen, ich glaubte mich zu großen Dingen berufen und war zur Nichtigkeit verdammt. Ich brauchte Menschen und besaß keine Freunde. Ich sollte mir einen Weg in die Welt bahnen und blieb allein, weniger aus Furcht als aus Scham. In dem Jahr, in dem mein Vater mich dem Strudel der großen Gesellschaft ausgesetzt hatte, gab ich mich ihr mit unschuldigem Herzen, mit unverdorbener Seele hin. Wie alle großen Kinder sehnte ich mich heimlich nach der Liebe. Unter den jungen Leuten meines Alters traf ich eine Clique von Großmäulern, die erhobenen Hauptes einherstolzierten, Nichtigkeiten schwätzten, sich keck zu Frauen setzten, die mir höchste Achtung einflößten, freche Reden führten, am Knauf ihres Spazierstocks kauten, sich eitel zierten und schöntaten, sich den hübschesten Frauen antrugen, in allen Schlafzimmern ein und aus gingen, es zumindest behaupteten, eine Miene zogen, als ob ihnen nichts mehr Vergnügen machte, die tugendhaftesten und züchtigsten Frauen für leichte Beute hielten, die man mit einem albernen Wort, der kleinsten gewagten Geste oder dem ersten dreisten Blick erobern könne! Ich schwöre es dir auf Ehre und Gewissen: es schien mir weniger schwer, politische Macht oder großes literarisches Ansehen zu erringen als den Erfolg bei einer geistreichen und anmutigen jungen Dame aus obersten Kreisen. So standen also die Wirren meines Herzens, meine Empfindungen, mein Bedürfnis, anzubeten, im Widerspruch zu den Grundregeln der Gesellschaft. Kühn war nur meine Seele, nicht mein Auftreten. Später habe ich gemerkt, daß Frauen nicht gebettelt werden wollen; ich sah viele, die ich von ferne anbetete, denen ich ein Herz entgegenbrachte, zu jeder Probe bereit, eine Seele zum Zerreißen und eine Glut, die vor keinen Opfern und keinen Martern zurückgeschreckt wäre; sie aber gehörten jämmerlichen Tröpfen an, die ich nicht einmal als Portiers gewollt hätte. Wie oft habe ich nicht stumm und regungslos die Frau meiner Träume bewundert, wenn sie auf einem Ball

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