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wohl Eile fort­zu­kom­men«, dach­te sie sich und schwieg. Er aber blick­te noch im­mer in die Nacht hin­aus.

      Der Tod? Lurch hat­te bis­her nur des­halb zu­wei­len an ihn ge­dacht, weil die Mut­ter auf ihn war­te­te. An sei­nen ei­ge­nen Tod hat­te er nie ge­dacht. Nun – plötz­lich – kam die­ser Ge­dan­ke – wie et­was Na­tür­li­ches, wie der not­wen­di­ge Ab­schluss ei­ner Exis­tenz, mit der Rosa sich nicht ver­bin­den woll­te… Je glück­lich ge­we­sen zu sein, ent­sann sich Lurch nicht. Vi­el­leicht sams­tags, wenn er be­trun­ken war? Doch, mein Gott, auch dann!… Sonst im­mer nur ge­drück­tes, freud­lo­ses Hin­krie­chen über das all­täg­li­che Tag­werk – – bis die Lie­be kam und sich in die­sem lee­ren Da­sein breit­mach­te, es gänz­lich auf­sog. Zur Qual aber wur­de sie, als sie greif­ba­re Ge­stalt an­nahm, als die Hoff­nung aus ihr ein un­wi­der­steh­li­ches Be­geh­ren mach­te, das an Con­rad Lurch nag­te, ihn pei­nig­te, wie Zahn­weh. Jetzt, da Rosa für im­mer ver­lo­ren war, muss­te das Ende kom­men. Nicht?

      Lei­se ging er an den Schrank sei­ner Mut­ter und tas­te­te, bis er das Schub­fach fand, in dem die An­den­ken an den Va­ter la­gen. Pfei­fen­köp­fe, Fe­der­hal­ter, ein Geld­beu­tel, ein Ra­sier­mes­ser – ja, das war’s! Lurch steck­te das Mes­ser in die Ta­sche sei­nes Über­rockes. Nun hät­te er ge­hen kön­nen, den­noch setz­te er sich auf einen Stuhl. Vi­el­leicht brauch­te es nicht zu sein. Sein Blick fiel auf den Kopf sei­ner Mut­ter, der re­gungs­los in den Kis­sen lag. Ja – die alte Frau, der wird es na­he­ge­hen. Wer wird mor­gen den Kaf­fee ma­chen? Je nun, sie wird die Magd von ge­gen­über ru­fen. Aber zu­recht­stel­len woll­te er ihr al­les. Er hol­te die Kaf­fee­kan­ne, die Spi­ri­tus­lam­pe, das Geld für den Bä­cker, da­ne­ben leg­te er den Schlüs­sel sei­nes Schreib­ti­sches. Dort konn­te sie noch ein we­nig Geld fin­den, das reich­te wohl hin, bis die alte Frau sich an die Stadt um Ver­sor­gung wen­den wür­de. Er trat an das Bett der Mut­ter und küss­te be­hut­sam die Spit­ze der Nacht­hau­be. – Jetzt muss­te er wirk­lich ge­hen, es war spät. Sach­te stieg er die Trep­pe hin­ab.

      Drau­ßen weh­te es ihm kalt ent­ge­gen. Er war müde, schläf­rig, zer­schla­gen, dar­um eil­te er, um end­lich Ruhe zu ha­ben. Da war die Kon­di­to­rei! Hin­ter zu­ge­zo­ge­nen Vor­hän­gen tob­te der Gers­ten­saft-Strauß. Aber Silt, Ap­fel­baum – sie alle er­schie­nen Lurch wie fer­ne, ver­bli­che­ne Ge­stal­ten, die er vor lan­ger Zeit ge­kannt hat­te, Bür­ger der farb­lo­sen Welt, in der auch er leb­te vor dem Kuss im Tröd­ler­hau­se. Das, was er jetzt vor­hat­te, war, sei­ner Mei­nung nach, ganz an­ders vor­nehm als die Wit­ze des Gers­ten­saft-Prä­si­den­ten.

      Vor Ro­sas Fens­ter blieb Lurch ste­hen. Es war dun­kel, aber die schwar­zen Glas­ta­feln hauch­ten auf ihn wie­der das schwü­le, hilflo­se Ver­lan­gen nie­der. Wü­tend nag­te er an sei­ner Un­ter­lip­pe und drück­te die Knö­chel sei­ner Hän­de an­ein­an­der. Als er end­lich wei­ter­ging, schluchz­te er – die Hän­de in den Rock­ta­schen, das Ge­sicht jam­mer­voll ver­zo­gen. Er eil­te im­mer mehr, er lief fast den Fluss ent­lang, durch ent­le­ge­ne, enge Gas­sen, bis er an ein nied­ri­ges, un­rein­li­ches Haus ge­lang­te. Aus den mit Kalk ge­trüb­ten Fens­ter­schei­ben schi­en ihm ein mat­tes, mil­chi­ges Licht ent­ge­gen, und über der Türe zeig­te ein Trans­pa­rent in ro­ten Buch­sta­ben das Wort »Bad«.

      Im Flur qualm­te eine Pe­tro­le­um­lam­pe, auf ei­ner Bank saß eine alte Frau und schlief, den Kopf auf die Brust ge­senkt. Sie war nur mit ei­nem Hem­de und ei­nem kur­z­en Rock be­klei­det, die dür­ren Arme, die Bei­ne und Füße wa­ren nackt. Lurch muss­te meh­re­re Male sein »Wis­sen Sie! – Hö­ren Sie« wie­der­ho­len, eh die Frau er­wach­te. End­lich fuhr sie auf – und ohne Lurch an­zu­se­hen, er­griff sie die Lam­pe und rann­te – tap tap – mit ih­ren nack­ten Fü­ßen über die Flie­sen; da Lurch aber ver­le­gen ste­hen­blieb, wand­te sie sich um und ver­setz­te knar­rend: »Ge­hen Sie ins War­te­zim­mer, ers­te Türe links.«

      Im War­te­zim­mer sa­ßen zwei Män­ner in Hemds­är­meln vor vie­len Bier­fla­schen. Schläf­rig und faul stütz­ten sie sich auf den Tisch, zu schlaff, um nach den ge­füllt vor ih­nen ste­hen­den Glä­sern zu grei­fen.

      Lurch setz­te sich in eine fins­te­re Ecke, knöpf­te sei­nen Über­rock auf, nahm den Hut ab, leg­te die Hän­de flach auf die Knieschei­ben und war­te­te ge­dul­dig. Er war wie­der ru­hig ge­wor­den, und wäh­rend er da­saß, be­seel­te ihn nur ein fes­tes Wol­len – ohne Ge­dan­ken. Ei­ner der Män­ner raff­te sich auf, schlug klat­schend mit der Hand auf den Tisch und lall­te: »Und wenn die Ju­lie mor­gen nicht Aus­gang hat – dann rei­ße ich ihr den Kopf ab – ja.«

      Be­deu­tungs­los und nichts­sa­gend klang Lurch das Wort »mor­gen« in die Ohren, wie ir­gend­ei­ne Re­dens­art, die un­ser Nach­bar im Coupé sei­nen Be­kann­ten zu­ruft. »Grü­ßen Sie auch den Karl!« – Was ist uns Karl? Was war Lurch mor­gen? Eben­so we­nig wie die Ju­lie.

      Die Ba­de­frau kam und führ­te Lurch auf sei­ne Num­mer, ein en­ges Ka­bi­nett, in dem sich eine Wan­ne aus Weiß­blech, ein Tisch, eine Ker­ze in ei­nem Mes­sing­leuch­ter, ein Stuhl und ein Spie­gel be­fan­den. »Dan­ke«, sag­te Lurch und schloss die Türe.

      Ohne zu säu­men, ent­klei­de­te er sich. Je­des Klei­dungs­stück, das er ab­leg­te, klopf­te er mit der Hand aus, fal­te­te es zu­sam­men und leg­te es auf die Fens­ter­bank. Als er da­mit zu Ende war, schärf­te er das Ra­sier­mes­ser an den Zie­gel­stei­nen des Bo­dens und stieg dann be­hut­sam in das Was­ser. Die Wär­me tat ihm wohl; er streck­te sei­ne Glie­der und rieb sie sanft mit der Hand. Eine be­hag­li­che Träg­heit kam über ihn; schläf­rig sah er die Flam­me der Ker­ze an, die im­mer krau­se­re Strah­len be­kam. Sei­ne Ge­dan­ken schweif­ten un­klar und ver­wor­ren in die Fer­ne, ka­men je­doch stets auf den­sel­ben Punkt zu­rück; »nun kommt der Tod. Gleich muss er da sein – er kommt – kommt –, das ist er – ah –«. Das Was­ser plät­scher­te. Lurch sah auf. Ne­ben ihm lag das Mes­ser. Er be­sann sich. Wie? Das war das Ster­ben also noch nicht ge­we­sen? Den gan­zen Weg hat­te er noch zu ma­chen. In der un­ge­stü­men Wut, mit der Schlaf­trun­ke­ne al­les fort­zu­sto­ßen pfle­gen, was ih­ren Schlaf stört, er­griff Lurch das Mes­ser und be­gann, ge­gen sei­nen dür­ren, blei­chen Leib zu wü­ten.

      Im Flur drau­ßen hat­te sich die Ba­de­frau wie­der auf die Bank ge­setzt und schlief. Im War­te­zim­mer schlie­fen die zwei Män­ner vor ih­ren Bier­fla­schen, und durch die of­fe­ne Hau­stü­re schau­te die kal­te Rein­heit der Mond­nacht in den qual­mi­gen Raum.

      Fünftes Kapitel

      Ge­gen Mor­gen erst hat­te Ag­nes Rosa zu Bett ge­bracht, und ein tiefer Schlaf war über das arme Kind ge­kom­men, aus dem sie erst spät am Vor­mit­tag er­wach­te.

      Ag­nes, die auf die­sen Au­gen­blick ge­spannt ge­war­tet hat­te, ging so­fort zu ihr und schlug vor, Rosa sol­le zu Bett blei­ben, Tee trin­ken, ein Ei es­sen, sich warm zu­de­cken. Rosa wies al­les zu­rück, lä­chel­te und ant­wor­te­te mit kla­rer, ru­hi­ger Stim­me, sie wol­le sich an­klei­den und dann Tee trin­ken. Ag­nes möge nur so gut sein, im Wohn­zim­mer ein Feu­er an­zu­ma­chen, denn Rosa fror.

      »Ja, ja«, er­wi­der­te Ag­nes un­si­cher. »Ich mein­te nur, es wäre bes­ser, du bliebst lie­gen. Wenn ich krank bin oder mir sonst nicht recht ist, mein ich, im Bett, da ist’s am si­chers­ten; da kommt mir nicht so leicht et­was nah, das mich krän­ken oder mir scha­den könn­te. Aber wie du willst.«

      Es war, als habe Rosa wäh­rend

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