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      Nachdem er ihren Blutdruck gemessen hatte, wiegte er bedenklich den Kopf.

      »Was ist mit mir, Herr Doktor?« fragte Helene schwach.

      »Ich würde Sie gern zur Beobachtung in die Klinik schicken. Sie haben einen Schock erlitten. Ein paar Tage Erholung würden Ihnen guttun.«

      »Sie haben mein vollstes Vertrauen.«

      »Das ehrt mich. Dann veranlasse ich alles Nötige.« Daniel griff nach seinem Handy und informierte die Kollegen in der Behnisch-Klinik. Sie versprachen, sofort einen Krankenwagen zu schicken.

      Daniel wartete bei Helene Wolrab, bis der Wagen eintraf.

      Lisa hatte unterdessen mit Helenes Einverständnis einige Sachen aus ihrer Wohnung geholt und in eine Reisetasche gepackt. Als Daniel erwähnte, daß sich Christina in derselben Klinik befand, war Anian einen kurzen Moment versucht, gleich mitzufahren, um sie zu besuchen. Doch er wollte sie nicht überfallen. Sie sollte zur Ruhe kommen und erst richtig gesund werden.

      *

      Seit dem Besuch des Kommissars hatte Iris Kunert keine ruhige Minute mehr gehabt. Sie ahnte, daß Kommissar Zettler mit seiner Vermutung recht haben könnte und ihr Mann sie schon seit Jahren belog.

      Bis zu dem Tag, an dem Michael ihr seinen Seitensprung gestanden hatte, hatte sie keinen Verdacht geschöpft. Er war immer äußerst zuvorkommend und liebenswürdig und hatte sich keine Blöße gegeben. Die große Leidenschaft war es schon lange nicht mehr zwischen ihnen gewesen, darüber waren sich beide im klaren, doch nach siebzehn Jahren Ehe hielt Iris diesen Umstand für ganz natürlich. Wenn sie allerdings jetzt darüber nachdachte, sah sie die Beziehung zu ihrem Mann in einem neuen Licht. All die kleinen Ungereimtheiten, wenn er ihr erklärte, warum er am Wochenende nicht bei ihr sein konnte, die vielen Geschäftsreisen und die horrend hohen Kreditkartenabrechnungen ergaben plötzlich einen Sinn. Ihre Depressionen hatten Iris in den letzten Jahren die Sinne vernebelt, doch plötzlich sah sie sonnenklar. Es war wie ein heilsamer Schock.

      Eine gesunde Wut überkam Iris. Nach einer durchwachten Nacht, in der sie ein Resümee gezogen hatte, beschloß sie, sich von Michael zu trennen und ihm alle finanziellen Mittel zu entziehen. Sie war so klug gewesen, bei ihrer Eheschließung einen Ehevertrag aufzusetzen, den Michael zähneknirschend unterschrieben hatte. So hatte er auch keine rechtlichen Möglichkeiten, bei einer Scheidung einen Teil des Vermögens einzuklagen.

      Als der Anruf von Kommissar Zettler kam, daß Michael in der Angelegenheit von Berg entlastet war, da es sich nur um einen Kinderstreich gehandelt hatte, fühlte Iris sich erleichtert. Alle Last war nun von ihren Schultern genommen, da sie sich indirekt mitschuldig am Verschwinden Muriels gefühlt hatte.

      In dieser Stimmung traf Michael Kunert seine Frau an, als er am frühen Nachmittag das Haus betrat. Sie saß auf der weißen Ledercouch im Wohnzimmer und sah umwerfend aus.

      Mit einem gefährlichen Blitzen in den Augen begrüßte sie ihn. »Hallo Schatz. Darf ich fragen, wo du gewesen bist?«

      »Das weißt du doch. Ich war in Bozen auf einem Nachwuchswettbewerb für junge Sänger.« Er runzelte die Stirn. »Stimmt etwas nicht?« fragte er unsicher.

      »Hast du nicht gehört, daß die kleine Muriel von Berg verschwunden ist?«

      Michael wurde blaß. »Davon habe ich keine Ahnung«, antwortete er wahrheitsgemäß.

      Iris genoß ihren Triumph in vollen Zügen. Sie wollte ihn aufs Glatteis führen, und das schien zu gelingen. »Gott sei Dank hast du ein gutes Alibi. Kommissar Zettler geht nämlich davon aus, daß du die Kleine entführt hast. Es ist nämlich bekannt geworden, daß du Christina von Berg bedroht und unter Druck gesetzt hast.«

      Michaels Entsetzen war unübersehbar. Fieberhaft überlegte er eine Ausrede, während seine Frau sein wechselhaftes Mienenspiel amüsiert beobachtete.

      »Hör zu, Iris. Ich muß mit dir reden«, sagte er schließlich.

      Er kämpfte sichtlich mit sich, und die Worte kamen nur zögernd über seine Lippen.

      »Ich höre!«

      »Ich habe alles doch nur dir zuliebe getan«, beteuerte er.

      »Das ehrt dich. Aber das ist nur die eine Seite. Du hast mich belogen. Du hast mir erzählt, Christina von Berg sei eine schlechte Mutter und überfordert obendrein. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein.«

      Schuldbewußt blickte er zu Boden. »Das habe ich nur für dich getan!«

      »Ich sehe das anders. Mir ist seit gestern einiges klargeworden, mein Lieber. Aber das sage ich dir später. Was ist mit deinem Alibi? Soll ich deinen Chef anrufen und mich nach dem Wettbewerb in Bozen erkundigen?« fragte sie maliziös lächelnd.

      »Bitte, tu das nicht«, flehte er erschrocken.

      »Was hast du zu verbergen? Ich bin mir sicher, daß eine andere Frau im Spiel ist. Wie heißt sie?«

      Michael blickte erstaunt auf. »Woher weißt du das?«

      »Ich bitte dich, Micha, ich kann doch eins und eins zusammenzählen.«

      »Also gut. Es ist Melanie.«

      Bei diesen Worten verengten sich Iris’ Augen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ihre beste Freundin Melanie also!

      »Seit wann?« fragte sie mit schneidender Stimme.

      »Bitte, Iris, du darfst dich nicht aufregen. Das ist nicht gut für deine Nerven.«

      »Ich entscheide selbst, was gut ist für mich und was nicht.« Ihre Stimme zitterte vor Wut. »Beantworte meine Frage!«

      »Seit zwei Jahren«, flüsterte Michael mit gesenktem Blick.

      Iris sprang auf und lief im Zimmer auf und ab. Ihre Absätze klapperten auf dem hellen Marmor.

      Michael wagte nicht, sie anzusehen.

      Schließlich blieb sie vor ihm stehen.

      »Ich bin froh, daß alles so gekommen ist. Diese Ereignisse haben mir endlich die Augen geöffnet. Unterbewußt habe ich schon lange gespürt, daß etwas nicht stimmt zwischen uns und habe mich in einen Kinderwunsch hineingesteigert, weil ich dachte, ein Kind könnte unsere Beziehung retten. Heute weiß ich, wie falsch ich lag. Aber daß es ausgerechnet Melanie ist, mit der du mein Geld verjubelst, das werde ich dir nicht verzeihen. Niemals! Und jetzt hast du fünf Minuten Zeit, deine Koffer zu packen und zu ihr zu gehen. Ich habe meine Zeit schon viel zu lange mit dir verschwendet. Ab heute genieße ich mein Leben wieder. Und zwar ohne dich!«

      Die letzten Worte hatte sie fast geschrien. Sie verlor nie die Kontrolle über sich, doch auf einmal merkte sie, wie gut es tat, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen.

      »Ich kann dir alles erklären«, versuchte er es noch einmal. Doch ein Blick seiner Frau genügte, daß er verstummte.

      Kurze Zeit darauf verließ Michael Kunert mit gesenktem Kopf das Haus seiner Frau.

      *

      Helene Wolrab war gut untergebracht in der Behnisch-Klinik. Die Schwestern kümmerten sich rührend um sie, und sie genoß die Ruhe nach all der Aufregung. Der Schreck über Muriels Verschwinden saß tief, und nachts wachte sie oft schweißgebadet auf. Sie hatte das Gefühl einer tiefen Müdigkeit in sich, was Daniel Norden große Sorgen bereitete.

      »Wie geht es Ihnen heute, Frau Wolrab?« fragte er, als er sie eines Morgens vor seiner Sprechstunde kurz besuchte.

      »Ganz gut, Herr Doktor«, antwortete sie mit einem matten Lächeln. »Aber die rechte Lebenslust mag sich nicht mehr einstellen.«

      »Ich mache mir große Sorgen um Sie. Organisch gesehen sind Sie völlig gesund. Und doch sind Sie immer noch sehr schwach.«

      »Ich weiß nicht, ob das alles noch Sinn macht.«

      »So dürfen Sie nicht reden. Schauen Sie sich doch um. Der Frühling kommt, die Vögel singen wieder und Sie haben eine nette Untermieterin mit einer reizenden Tochter. Was

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