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ist charakteristisch, dass sie weder notwendige Bedingungen kriminellen Verhaltens angibt noch, dass die von ihr angegebenen Bedingungen zur Erklärung des Auftretens kriminellen Verhaltens hinreichen. Wieso keineswegs jede Integration in eine deviante Subkultur kriminelles Verhalten auslöst, kriminelle Karrieren trotz gleichbleibend negativer Einflüsse mitunter unvermutet abbrechen, frühkindliche Fehlentwicklungen oder psychopathologische Auffälligkeiten großteils anders als durch Delinquenz kompensiert werden, lässt sich bislang ebenso wenig zulänglich beantworten wie unter welchen Randbedingungen ein Ladendiebstahl anomietheoretisch oder frustrationstheoretisch zu beantworten ist. Die Ableitung prognosetauglicher Aussagen aus kriminalitätstheoretischen Annahmen scheitert an der derzeit unüberwindlichen Schwierigkeit, die Zusatzvoraussetzungen erschöpfend und zugleich hinlänglich präzise zu benennen, welche die behauptete Stringenz der jeweiligen kriminalitätsindizierenden Faktoren erst herstellen.

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      Kriminalitätstheorien sind darum bloß Fragmente einer universellen Erklärung der Kriminalitätsgenese, Versatzstücke, die in ihrer Eindimensionalität prinzipiell inadäquat ausfallen. Sie liefern Teilerklärungen bestimmter Phasen der delinquenten [62]Entwicklung, deren Gesamtverlauf einstweilen nicht adäquat darstellbar ist. Deshalb sind sie nicht im (anspruchsvollen) Wortsinne Theorien der Kriminalität, sondern nützliche heuristische Vorstellungshilfen oder modellhafte Ansätze mit je beschränkter Perspektive und Reichweite.

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      Diese zurückhaltend-skeptische Einschätzung macht die Beantwortung der kriminalätiologischen Frage nach den Bestimmungsgründen für das Zustandekommen, die Entwicklung und die Verbreitung kriminellen Verhaltens schwieriger denn je. Die meisten von uns werden – mehr oder weniger intuitiv – eine bestimmte Ursachenerklärung anderen vorziehen. Der Glaube an die Abhängigkeit strafbaren Verhaltens von Einflüssen der biologischen Anlage, des sozialen Umfeldes oder der Gesellschaftsstruktur verleitet zur gleichsam statischen Annahme eines strengen Ursache-Wirkungs-Zusammenhanges, die der Komplexität und Dynamik von Kriminalitätsphänomenen nicht gerecht wird. Eine solche statische Annahme ist verlockend, weil sie eine erschöpfende Erklärung von Kriminalitätsphänomenen behauptet. Der Hinweis, dass eine bestimmte Anlage, ein bestimmtes soziales Umfeld oder eine bestimmte Gesellschaftsstruktur keineswegs zwingend zu kriminellem Verhalten führt, irritiert die um eingängige und endgültige Antworten bemühten Gemüter. Machen wir uns frei von solchen allzu simplen Vorstellungen und seien wir bereit, anzuerkennen, dass die Kriminalitätsentstehung komplexer ist als die um vorschnelle Problemlösungen bemühten eindimensionalen Alltagsvorstellungen.

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      Diese Überlegungen sollten nicht im Sinne einer prinzipiellen Unerklärbarkeit der Kriminalität missverstanden werden. Die Behauptung von der Unergründlichkeit der Kriminalitätsentstehung macht aus dieser ein Mysterium, ein unlösbares Rätsel120, dem mit Mitteln des Verstandes nicht beizukommen ist und welches eine vernünftige Kriminalpolitik desavouiert. Wir sollten nicht vorschnell den begrenzten Erkenntnisfortschritt preisgeben, den Kriminalitätstheorien erbringen, sondern aus der Erkenntnis der Begrenztheit dieses Fortschritts die Lehren ziehen. Darauf ist bei der zusammenfassenden Würdigung der Kriminalitätstheorien (→ § 14) zurückzukommen.

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      Wir wollen das Theorienspektrum in seiner gesamten thematischen Bandbreite erörtern. Freilich ist angesichts der schier unendlichen Nuancierungsmöglichkeiten keine vollständige, sondern eine typisierende Darstellung angezeigt.121 Die Darstellung folgt einer systematischen Einteilung und nicht stets chronologisch der historischen Entstehung der erörterten Theorien.

      29 Drei Typen kriminologischer Theorien können unterschieden werden: Theorien, welche individuelle Merkmale benennen, die die Wahrscheinlichkeit kriminellen [63]Verhaltens erhöhen. Ferner Theorien, welche Strukturmerkmale sozialer Einheiten bezeichnen, die die Häufigkeit und Verteilung des Kriminalitätsvorkommens beeinflussen. Schliesslich Theorien, welche sich mit der Kontrolle der Kriminalität befassen. Individuenbezogene Theorien verwenden biologische, psychologische und psychiatrische Erklärungen. Diese Theorien gehen davon aus, dass die Bereitschaft zur Verübung kriminellen Verhaltens bei manchen Menschen größer als bei anderen ist, unabhängig von der sozialen Situation, in der sich diese befinden. Auf soziale Einheiten bezogene Theorien verwenden soziologische und sozialpsychologische Erklärungen. Diese Theorien nehmen an, dass gewisse ungünstige Beschaffenheiten des sozialen Umfelds mit einem erhöhten Kriminalitätsvorkommen und einer bestimmten Kriminalitätsverteilung zusammenhängen, unabhängig von den Merkmalen der Individuen, die sich in diesem Umfeld befinden. Beide Theorietypen richten sich auf die Erklärung kriminellen Verhaltens, sind also Kriminalitätstheorien. Auf die Kriminalitätskontrolle bezogene Theorien sind zunächst Kriminalisierungstheorien, die sich mit den förmlichen Reaktionen auf Kriminalität und den Verläufen der Reaktionsprozesse befassen. Daneben sind solche Theorien ebenfalls Kriminalitätstheorien, die das Auftreten „sekundärer Devianz“ (→ § 13 Rn 6) aus der Übernahme eines durch Kontrollvorgänge erzeugten kriminellen Selbstbildes bestimmen.

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      Zunächst werden individuenbezogene Theorien erläutert, welche um die Aufklärung der individuellen Ursachen des Straffälligwerdens (also ätiologisch) bemüht sind und das deterministische Verhaltenskonzept sowie das Erklärungsmodell zu Grunde legen. Wir werden diesen Theorietyp an Hand von Entwicklungen der Biokriminologie (→ § 7) und psychologischer und psychiatrischer Persönlichkeitskonzepte (→ § 8) darstellen.

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      Bei den auf soziale Einheiten bezogenen Theorien werden Abnormitäten mit der Häufigkeit und Art des Kriminalitätsvorkommens in diesen Einheiten in Zusammenhang gebracht. Diese Theorien nehmen an, dass soziale Einheiten verhaltensbestimmend sind, insofern eine Mehrheit der in diesen Einheiten lebenden Individuen den darin bestehenden Verhaltenserwartungen folgen wird. Solche sozialen Einheiten lassen sich auf der Mikroebene des Umfelds des Täters, der Mesoebene sozialer Teilsysteme und der Makroebene gesamtgesellschaftlicher Strukturen lokalisieren. Auch diese Theorien sind (im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit) deterministisch, erklärend und ätiologisch. Wir werden diesen Theorietyp an Beispielen sozialstruktureller Konzepte (→ § 9) und der Sozialisation im sozialen Nahbereich (→ § 10) studieren. Die anschließend zu erörternden Kontrolltheorien (→ § 11) beruhen im Kern auf der Annahme von kriminalitätsbegünstigenden Kontrolldefiziten und lassen sich ebenfalls dem Typ der Kriminalitätserklärung aus Abnormitäten sozialer Einheiten zuordnen. Bei den aktuellen spätmodernen Theorien (→ § 12) ist eine eindeutige Typisierung nicht möglich. Während die ökonomische [64]Kriminalitätstheorie eine von sozialen Einflüssen freie, also indeterministische Verhaltenswahl behauptet (→ § 12 Rn 12 ff.), geht die allgemeine Theorie von Gottfredson und Hirschi (→ § 12 Rn 43 ff.) von einer frühkindlichen, lebenslang erhalten bleibenden Verhaltensprägung durch Bezugspersonen aus.

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      Als auf die Kriminalitätskontrolle bezogene Theorie ist der labeling approach (→ § 13 Rn 6 ff.) bekannt. Dieser befasst sich mit den Bedingungen der Vergabe der Eigenschaft „kriminell“ durch den Gesetzgeber und die Instanzen der Strafrechtsanwendung. Um die Verbindung des labeling approach mit dem Verstehensmodell (→ § 2 Rn 11 ff.) deutlich zu machen und die fortwährende Bedeutung dieses Modells auch nach dem inzwischen eingetretenen Bedeutungsverlust des labeling approach zu begründen, wird Kriminalität in den Zusammenhang mit sozialer Interaktion gerückt und das interpretative Paradigma (→ § 13 Rn 1 ff.) als Leitidee präsentiert. Schließlich wird die soziale Konstruktion der Geschlechterrollen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ in der Genderforschung als allgemeiner Deutungsrahmen für das Verständnis der Kriminalitätskontrolle und als Anwendungsbeispiel des interpretativen Paradigmas herausgearbeitet (→ § 9 Rn 33 ff.).

      117 Atteslander 2010, 24 ff.; Friedrichs 1990, 94.

      118 S. von Wright 1974, 25.

      119 Friedrichs 1990, 94.

      120 Lange 1970.

      121 Weitere Differenzierungen etwa bei Eifler

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