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Vermutung ihrer Wahrheit in den veranstalteten Erfahrungstests nicht entkräftet wurde, die Hypothese also in einem vorläufigen, mit prinzipiellen Irrtumsmöglichkeiten behafteten Sinne als bestätigt anzusehen ist. Kriminalätiologische Aussagen bleiben allemal Wahrscheinlichkeitsannahmen, deren „Wahrheit“ empirisch nicht endgültig beweisbar ist.

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      Dem gemäß ist es unmöglich, die „letztlichen“ oder „eigentlichen“ Ursachen der Kriminalität erfahrungswissenschaftlich auszumachen. Kriminalätiologische Theorien können nur Faktoren benennen, deren kausaler Zusammenhang mit kriminellem Verhalten einstweilen mehr oder weniger gut auf kontrollierte Beobachtung gestützt werden kann. Die Feststellung eines solchen Zusammenhanges lässt lediglich die probabilistische Aussage zu, dass bei bestimmten Ausgangsbedingungen die Wahrscheinlichkeit späteren Auftretens bestimmter Kriminalitätsphänomene größer ist als bei Fehlen dieser Ausgangsbedingungen. Nicht hingegen lässt sich daraus ableiten, die Kriminalitätsphänomene seien durch die Ausgangsbedingungen in einem strengen Sinne verursacht. Eine solche unzulässige Verwechslung von Korrelation mit Kausalität liefe auf den induktiven Fehlschluss post hoc, ergo hoc (weil Ereignis X nach Ereignis Y gehäuft auftritt, wurde Ereignis X durch Ereignis Y bewirkt) hinaus.

      [59]16

      Induktionen – also Schlüsse von erfahrungsgestützten Einzelaussagen auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten – sind nicht logisch zwingend. Wenn wir beobachten, dass Schwäne weiß gefiedert sind und Gefängnisinsassen armen und zerrütteten Familien entstammen, neigen wir zu generalisierenden Aussagen wie: Alle Schwäne sind weiß, sämtliche Strafgefangene entstammen armen und zerrütteten Familien. Solche Aussagen bezeichnen nicht Gesetzmäßigkeiten, sondern enthalten bloß einstweilen durch Erfahrung gestützte Hypothesen, die an neu zu gewinnender Erfahrung scheitern können. Mit der Beobachtung eines schwarzen Schwans oder der Feststellung, dass es Strafgefangene aus reichen und intakten Familien gibt, werden die vorläufig bestätigten Hypothesen widerlegt. Stets ist mit der Widerlegung auf Erfahrung beruhender Annahmen über die Kriminalitätsentstehung zu rechnen. Die Suche nach den „eigentlichen“, „letzten“ Kriminalitätsursachen ist deshalb unnütz. Diese Frage zu stellen, hieße, mit Ursachen zu rechnen, die kriminelles – wie überhaupt menschliches – Handeln in einem zwingenden Sinne, nicht nur im Sinne statistischer Wahrscheinlichkeit, determinierten. Richtig verstanden, behaupten kriminalätiologische Theorien deshalb keine zwingende Determiniertheit kriminellen Verhaltens durch bestimmte Ursachen, sondern nur einen einstweilen unwiderlegten statistisch begründbaren Wahrscheinlichkeitszusammenhang von Kriminalität mit bestimmten Einflussfaktoren.

      17 Diese Einsicht relativiert die Erklärungskraft ätiologischer Theorien. Die Feststellung bestimmter Zusammenhänge schließt nämlich prinzipiell nicht aus, dass es andere Zusammenhänge im Sinne intervenierender Variablen119 gibt, die nicht geprüft wurden und die unter Umständen vom gewählten theoretischen Ausgangspunkt her gar nicht überprüfbar sind. Die Beobachtung, dass Kinder und Jugendliche mit großen Füssen statistisch über eine höhere Intelligenz als solche mit kleinen Füssen verfügen, lässt keinen Schluss von der Schuhgröße auf die Intelligenz zu, weil dabei das Alter als intervenierende Variable unberücksichtigt bleibt, das sowohl die Schuhgröße wie die Entwicklung der Intelligenz beeinflusst. Erfahrungsgestützte Theorien sind nichts weiter als Orientierungen des Verstandes, welche die freie Assoziation disziplinieren, indem sie diese in eine bestimmte Richtung lenken – und damit von anderen gleichermaßen konsistent verfolgbaren Denkrichtungen entfernen. Nicht die Theorien, sondern nur die mit Hilfe der Theorien erbrachten Erklärungen können wahr oder falsch sein. Erfahrungsgestützte Theorien erweisen sich bei der Anwendung als mehr oder weniger plausibel und brauchbar, um getätigte Wahrnehmungen zu interpretieren und sinnvolle Zusammenhänge zwischen Einzelbeobachtungen herzustellen.

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      Genau genommen suggeriert der Begriff „Kriminalitätstheorie“ eine falsche Vorstellung. Er weckt die uneinlösbare Erwartung, die Kriminalitätsgenese vermittels konsistenter empirisch überprüfbarer Theorieannahmen adäquat und umfassend darstellen und erklären zu können. Dies ist unmöglich, weil die theoretische Wahrnehmung notwendig perspektivgebunden und eine endliche Menge von Wahrnehmungsperspektiven nicht nachweisbar ist. Je nach gewählter theoretischer Prämisse fallen das Abstraktionsniveau und die Reichweite der zu prüfenden Annahmen sowie die empirischen Prüfmöglichkeiten unterschiedlich aus. Die Unsicherheit bei der Beantwortung der eingangs (→ § 1 Rn 1) gestellten Frage: „Was ist Kriminalität und was ist daran erklärungsbedürftig?“ deutete die Problematik bereits an.

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      Wegen der Unterschiede hinsichtlich Fragestellung, Abstraktionsgrad, Erklärungsreichweite und empirischer Prüfmöglichkeit sind die einzelnen Kriminalitätstheorien nicht ohne weiteres vergleichbar. Entgegen des begrifflichen Anscheins wollen und können Kriminalitätstheorien nicht die Kriminalität und die damit assoziierbaren Realphänomene in toto erklären, sondern weisen nur einzelne Zugangswege zu jeweils besonderen Aspekten des Kriminalitätsphänomens. Sie sind Anwendungen bezugswissenschaftlicher (→ § 1 Rn 4) Theorien auf das Problemfeld Kriminalität, von dem aus der gewählten bezugswissenschaftlichen Perspektive immer nur die jeweils fachimmanent zugänglichen Aspekte ins Blickfeld gelangen.

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      Da jede Theorie nur bestimmte, ihrem Wahrnehmungshorizont zugängliche, Relevanzstrukturen des Kriminalitätsphänomens berücksichtigt, liegt es nahe, sich um eine Kombination verschiedener Kriminalitätstheorien zu bemühen. Doch ist die Erwartung, dass die einzelnen Theorien in gegenseitiger fruchtbarer Ergänzung ein aussagekräftiges Gesamtbild der Kriminalität und ihrer Bezüge formen würden, wohl nicht einzulösen. Die Theorien liefern eben nicht Teile eines Puzzles, die einfach zusammengelegt werden könnten, sondern gleichsam Stücke mit runden und eckigen Kanten, die nicht ohne Lücken zusammenpassen, und deren unterschiedliche Höhen sich nicht auf die Zweidimensionalität des Puzzlebildes reduzieren lassen.

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      Obgleich Kriminalitätstheorien zumindest derzeit nicht zu einer in sich konsistenten Globaltheorie geordnet werden können, bestehen doch zwischen den einzelnen Theorien Zusammenhänge und Abhängigkeiten. Der zunächst naheliegende Eindruck eines beziehungslosen Nebeneinanders von unterschiedlichen Beobachtungsfeldern und -perspektiven täuscht. Dies wird schon dadurch deutlich, dass die verschiedenen Theorien in Konkurrenz zueinander stehen.

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      Während vordem eine „Schule“ – oder zumindest die Auseinandersetzung mit ihr – das kriminologische Denken einer Epoche bestimmte, ist im 20. Jahrhundert das [61]Monopol einer epochalen Kriminalitätserklärung gebrochen und hat einem freien Markt vielfältiger Erklärungsangebote Platz gemacht. Obwohl die theoretischen Deutungsmuster je einzeln eine konsistente Kriminalitätserklärung abzugeben beanspruchen, sind sie doch immer nur als Alternative zu konkurrierenden gleichzeitig vertretenen anderen Deutungsmustern zu verstehen. Wie immer überzeugt man von einer bestimmten Kriminalitätserklärung sein mag – das Bewusstsein, dass auch andere Deutungsmöglichkeiten wissenschaftlich vertretbar sind, bleibt allgegenwärtig.

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      Die Konkurrenzsituation ist erklärungsbedürftig, scheint doch die Befassung mit dem einen thematischen Aspekt oder Gegenstandsbezug so legitim wie die Behandlung eines anderen. Weshalb zwischen den sich mit kriminellen Individuen befassenden Mikrotheorien und den soziale Strukturen thematisierenden Makrotheorien Brücken bestehen sollen, ist zunächst ebenso wenig einsichtig wie, weshalb den Mikrotheorien vorzuwerfen sei, dass sie die Makroperspektive vernachlässigen und umgekehrt. Indes ergeben sich Zusammenhänge daraus, dass sich einzelne Theorien in ihren Erklärungsansprüchen überschneiden, wobei die empirische Bestätigung der einen Erklärungshypothese die der anderen in Zweifel zieht. So wird die biologische Annahme der kriminellen Veranlagung bestimmter Individuen durch den Nachweis von Einflüssen des sozialen Umfeldes oder der gesellschaftlichen Struktur auf das Kriminalitätsvorkommen irritiert: denn wenn kriminelles Verhalten mit der individuellen Veranlagung zusammenhinge,

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