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Seitenhieb war unbeabsichtigt gewesen, doch sie nahm ihn scheinbar persönlich. Denn sie straffte die Schultern und ging wortlos davon.

      »Bis später!«, rief ich Delilah nach und erinnerte sie an ihr Versprechen mich wieder mit nach Hause zu nehmen. Ich hätte meine linke Hand darauf verwettet, dass sie mich auf der Heimfahrt am liebsten in den nächstbesten Graben schmeißen würde.

      Am Nachmittag hatte ich zwei Stunden Sport, das erste Fach an diesem Tag, in dem ich mich aktiv beteiligte. Ich liebte Sport. Obwohl ich nicht super durchtrainiert war, mochte ich körperliche Betätigungen mehr als still auf einem Stuhl zu sitzen und auf die Tafel zu starren.

      Zwei Mädchen, die auch am Morgen in meinem Mathekurs gesessen hatten, bauten mit mir die Geräte auf und fragten mich, wie mir Rockaway Beach und die Schule gefielen.

      Wir unterhielten uns eine Weile über belangloses Zeug, ein paar Mal fragten sie mich Dinge über England, aber ich reagierte ziemlich abweisend bei dem Thema und da ließen sie es bleiben. Sie waren nett und ich freute mich wirklich, dass sie mit mir redeten, aber ich hatte keine Lust über meine Zeit in der Psychiatrie zu sprechen. Zumal sie darüber nichts zu wissen schienen und mich für normal hielten. Dabei wollte ich es vorerst auch belassen.

      Jenna und Megan begleiteten mich trotzdem bis auf den Parkplatz, wo Delilah schon ungeduldig in ihrem Wagen wartete.

      »Sorry, ich muss dann.«

      Doch bevor ich losrennen konnte, hielt mich die größere, Jenna, an der Schulter fest. Sofort breitete sich eine Wärme von der Stelle aus, an der sie mich berührte. Ich schaute sie mit großen Augen an. Denn ihre Berührung war alles andere als unangenehm. Seltsam.

      »Du fährst mit der da mit?« Etwas an der Art wie sie das sagte, ließ mich aufhorchen.

      Ich runzelte die Stirn und nickte. Sie zog ihre Hand zurück und plötzlich fühlte ich mich ganz kalt und leer.

      »DAS ist Delilah Moore.« Jetzt klang sie verblüfft.

      »Ich weiß, wer sie ist. Sie ist meine Adoptivschwester.«

      »Na dann, herzlichen Glückwunsch. Da hast du ja den Jackpot gezogen«, sagte Megan lachend und schlug mir eine Hand auf den Rücken.

      Ich zuckte zusammen und wich vor ihrer Berührung zurück. Doch bevor ich fragen konnte, was sie mit ihrer Aussage meinte, hupte Delilah und winkte mir genervt zu.

      »Ich muss noch kurz in den Supermarkt. Du kannst im Auto warten«, erklärte Delilah, ohne mich anzuschauen.

      »Danke, ich habe auch keine Lust mit dir Zeit zu verbringen«, gab ich zurück und sah, wie sie die Augen verdrehte.

      Als sie das Auto parkte, schnappte ich mir meine Tasche und stieg aus.

      »Was wird das?«, fragte mein liebenswürdiges Schwesterlein mit hochgezogener Augenbraue. Diesen abwertenden Blick beherrschte sie mindestens genauso gut wie das Augenverdrehen.

      »Ich laufe«, antwortete ich und setzte mich in Bewegung. Ich glaubte nicht, dass sie mich aufhalten würde und wenn, war es mir auch egal.

      Bevor ich die Straße überquerte, schaute ich noch mal über die Schulter. Delilah stand immer noch neben ihrem Auto und starrte mir nach. Ich grinste.

      Für einen so kleinen Ort war ziemlich viel los. Menschen schlenderten den Bürgersteig entlang, unterhielten sich, traten aus dem ein oder anderen Laden heraus und wirkten dabei zufrieden.

      Vor mir liefen zwei Mütter mit ihren Kinderwägen, die sich angeregt miteinander unterhielten. Ich fühlte mich zum ersten Mal nicht unwohl zwischen den Menschen und in der Öffentlichkeit.

      Im Gegenteil, es war schön, sich einfach normal zu fühlen und dazuzugehören.

      In Rockaway Beach gab es mehrere kleine bunte Touristenläden, mit allerlei Kram, den man gerne aus dem Urlaub mitbrachte. Ich selbst hatte eine kleine Glasflasche mit einem schönen Segelschiff darin auf meinem Nachttisch stehen. Doktor Jones hatte sie mir von einem Wochenendausflug auf Rügen mitgebracht und ich hing sehr daran. Wenn mir mein Zimmer in England manchmal zu klein geworden war und ich mich fürchterlich einsam gefühlt hatte, hatte ich davon geträumt mit diesem Segelschiff davonzufahren, weit fort aus England in eine schönere, bessere Welt, in der ich normal war und meine Eltern noch lebten und mich liebhatten.

      Mir war klar, dass ich mich selbst zurückhielt, denn eigentlich wäre ich am liebsten direkt ans Meer gelaufen, das immer wieder zwischen den Häusern zu erkennen war. Doch ich wollte meine Selbstbeherrschung testen. Schon bald war ich an den meisten Läden vorbeigelaufen, die Shoppingstraße war nicht besonders lang und es gab nichts weiter, womit ich mich hätte ablenken können. Also gab ich meinem inneren Drängen nach, ließ mich vom Meer anlocken und verließ die Hauptstraße.

      Der Weg an den Strand war leicht zu finden, nur einen Steinwurf entfernt von der Straße. Wieder stand ich wie gefangen da, völlig eingenommen vom Anblick des Meeres. Meine Gedanken standen still und ich vergaß beinahe zu atmen. Verträumt starrte ich hinaus aufs Wasser. Minuten vergingen bis mir bewusst wurde, wie seltsam ich mich verhielt. Und dennoch war es wie nach Hause zu kommen, eine innere Ruhe hatte sich in mir ausgebreitet und ich fühlte mich vollkommen wohl. So wohl wie noch nie in meinem Leben.

      Ich wäre gerne ins Meer gewatet, ließ ich mich aber einige Schritte davor im trockenen Sand nieder. Obwohl es erst Anfang September war, war es hier in Oregon schon recht kühl, nicht kalt, aber ohne meine Jacke hätte ich beinahe gefröstelt. Nicht, dass ich es aus England gewöhnt war, im September zu schwitzen.

      Ich fasste mein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und holte meine Hausaufgaben hervor, die ich schnell erledigte, damit mir noch Zeit blieb, bevor ich nach Hause musste.

      Die Möwen kreisten durch die Luft und ab und zu war ihr Kreischen zu hören. Hinter mir wehte der Wind durch die Gräser auf den Dünen und trug ihren würzigen Duft zu mir. Ansonsten waren nur das Rauschen der Wellen und das ferne Brummen der Autos auf der Hauptstraße zu hören. Zufrieden lag ich im Sand, döste vor mich hin und ließ mich von den Geräuschen einlullen. So nah am Wasser war der Sog in meiner Brust sanfter geworden, war zu einem erträglichen Summen im Hintergrund verklungen. Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben ruhig und entspannt.

      Die Sonne wärmte meine Haut durch den Stoff und mir wurde angenehm warm. Doch es wurde immer wärmer und wärmer, bis es fast unerträglich heiß wurde und mein Körper zu glühen begann. Wo kam diese Hitze plötzlich her? Eben noch hatte ich es ohne Jacke kaum ausgehalten und jetzt hätte ich mich am liebsten komplett ausgezogen. Die Hitze breitete sich in mir aus, erfüllte jede Zelle und schien mich von innen heraus zu verbrennen. Ich wollte aufspringen und meinen erhitzten Körper im Wasser abkühlen, den Schmerz lindern. Doch noch bevor ich die Augen öffnen konnte, legten sich kühle, nasse Hände auf mein Gesicht, berührten die erhitzten Stellen und mein Herzschlag beruhigte sich. Sanft liebkosten die Hände meine Wangen, streichelten mein Haar und kühlten meinen Nacken. Und ein Gesang, wie aus einer anderen Welt, drang aus der Ferne in mein Ohr.

      Lieblich und rein, so verlockend, dass der Sog in mir wieder stärker und wilder wurde. Die Worte waren fremd und doch vertraut, wie ein Wiegenlied, an das man sich nur noch schwach erinnerte. Ich wollte für immer so liegen bleiben und bewegte mich nicht, aus Angst die Stimme und die Hände zu vertreiben.

      »Galene, komm nach Hause. Es wird Zeit, es ist bald soweit«, flüsterte eine sanfte Stimme. Die Hände zogen sich zögernd zurück und der Gesang wurde immer leiser bis er ganz verklang. Schlagartig riss ich die Augen auf und setzte mich so abrupt auf, dass mir schwindelig wurde. Ich musste eingeschlafen sein. Aber der Traum war so real gewesen, dass ich einige Sekunden brauchte, um mich zurechtzufinden. Der Schwindel verklang so schnell, wie er gekommen war.

      So real träumte ich sonst nie, auch wenn ich eine sehr lebhafte und blühende Fantasie hatte.

      Verwirrt schüttelte ich den Kopf und wunderte mich über mich selbst. Doch als ich den verrutschten Haargummi aus den Haaren zog, erschrak ich.

      Das Haar um mein Gesicht war feucht und an meinem Hals liefen Wassertropfen

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