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gedruckten Buchstaben zu fahren.

      Ein Buch war für mich wie ein Anker und eine Möglichkeit, in eine andere Welt abzutauchen und zu entspannen. Und Entspannung war etwas, das meine kaputte Seele brauchte. Doktor Jones war der festen Überzeugung, dass mich zu viel Hektik und Unruhe aus der Fassung bringen und mich um Längen zurückwerfen würden.

      Und recht hatte sie, Horrorfilme zum Beispiel waren in der Tat der blanke Horror für mich. Noch Wochen nachdem Mallory, meine Zimmernachbarin, mich gezwungen hatte, heimlich mit ihr ›Chucky die Mörderpuppe‹ anzuschauen, war ich am helllichten Tag von Panikattacken heimgesucht worden. Man fand mich jedes Mal zusammengekauert unter der Treppe sitzend, nachts war ich mehrfach schweißgebadet und schreiend aus einem Albtraum aufgewacht. Mallory war tatsächlich das pure Unglück für mich gewesen. Noch eine Woche zuvor hatte Doktor Jones die Medikamente vorübergehend abgesetzt, wegen guter Fortschritte.

      Aber nach dem Vorfall hatte sie mich, ohne zu zögern, wieder unter ›Drogen‹ gesetzt und hatte dieses Mal sogar die Dosis verdoppelt.

      Und ich hatte meine lieben kleinen Helferlein, wie Doktor Jones das Bromazepam nannte, brav geschluckt. Die Albträume verschwanden, aber die Panikattacken bei Tag blieben.

      Abgesehen von der leichten Verwirrtheit und dem verringerten Gefühlsempfinden plagten mich immer häufiger Halluzinationen. Die Wände schienen mich auszulachen und es war jenes männliche Lachen, das ich jahrelang gefürchtet hatte, denn es war der Vorbote für seine schlechte Laune gewesen, die er immer an mir ausgelassen hatte. Oder ich hörte schwere Schritte auf der Treppe, vor denen ich dann panisch davonrannte. Manchmal rannte ich soweit ich konnte. Und das war im Fall des Florence-Nightingale-Instituts für Bekloppte und ganzheitlich Irre ein beträchtliches Stück. Ein weitläufiger Park umgab das rote Backsteingebäude, damit die Verrückten von der offenen Station frische Luft schnappen oder verträumt auf einer der Bänke unter den Weiden sitzen konnten.

      Der Park war von einer großen Mauer umgeben, die mit Stacheldraht abgesichert war.

      Bis dorthin floh ich und warf mich blind vor Angst gegen den Stein, kratzte mir die Finger wund und kassierte jedes Mal eine Nacht in der Gummizelle dafür.

      Mallory wurde in eine andere Einrichtung versetzt, nachdem man den Film bei ihr fand. Ich vermisste sie nicht.

      Bei der Landung in Portland erbrach ich mich in meinen Spuckbeutel und blieb länger als alle anderen im Flugzeug sitzen. Ich wartete darauf, dass sich mein Magen beruhigte.

      Ich fühlte mich, wie nach dem ersten Mal als ich Bromazepam eingenommen hatte.

      Elend, einfach nur elend.

      Eine Stewardess brachte mir stilles Wasser und redete sanft auf mich ein. Es war keine der beiden rothaarigen.

      Schließlich musste ich das Flugzeug doch verlassen und gelangte mit wackeligen Beinen über die Gangway ins Innere des Flughafens. Dort roch es nach schlechtem Männerparfum und Reinigungsmittel.

      Mein Magen rebellierte.

      Während ich an der Gepäckausgabe in der großen Halle auf meinen kleinen Koffer wartete, behielt ich die Leute im Blick. Ich war noch nicht lange auf freiem Fuß und fühlte mich in der Öffentlichkeit immer unwohl und beobachtet. Ich konnte jeden neugierigen Blick wie Spinnenbeine auf meiner Haut spüren und das Getuschel der Leute drang in meine Ohren.

      Ich kratzte mich am Oberarm und warf einen nervösen Blick über die Schulter, nur um festzustellen, dass meine Paranoia mich fest im Griff hatte. Keiner starrt dich an, beschwor ich mich selbst.

      Ich schüttelte den Kopf wie ein Hund, um das Pfeifen in meinen Ohren loszuwerden.

      Das hier war nicht das verfluchte Kaff Hexham, Northumberland in England. Hier kannte mich kein Mensch. Niemand wusste, wer ich war. Für die Reisenden war ich nur ein x-beliebiges Mädchen, mittlerer Größe und mit zu dünnen Beinen, das bestenfalls im Weg stand.

      Die Leute nahmen nach und nach ihr Gepäck auf und verschwanden, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Es war ein wunderbares Gefühl so ignoriert zu werden.

      Schließlich spuckte das Band meinen kleinen Koffer aus, den ich mit Leichtigkeit anhob und hinter mir herzog.

      Gleich würde ich meine Adoptivfamilie treffen, meine neue Familie. Die einzigen Menschen wohlgemerkt, die ich mit dem Begriff Familie in Verbindung bringen konnte.

      Ich war mäßig aufgeregt. Ich kannte Brenda und Dan bereits. Sie hatten mich zweimal in England besucht, das erste Mal waren sie zu zweit gekommen und eine Woche geblieben. Das zweite Mal hatten sie ihre Tochter Delilah mitgebracht.

      Brenda und Dan mochte ich von Anfang an, sie lachten und redeten viel, nannten mich Darling und Sweety und umarmten mich ständig. Etwas, das ich selten zuließ, normalerweise hielt ich mir Menschen vom Leib. Körperliche Nähe und Berührungen vertrug ich ungefähr so gut wie Horrorfilme. Nämlich gar nicht. Vor allem wenn es ein Mann war, der mir zu nahekam.

      Meinem ersten Psychologen in Hexham, Professor Doktor Bird, hatte ich in die Hand gebissen, nachdem er versucht hatte meine Schulter zu tätscheln.

      Brenda und Dan aber waren sanft und strahlten eine Geborgenheit aus, bei der ich mich sofort wohlfühlte. Vor allem Brenda hatte ich ins Herz geschlossen. Ein gutes Zeichen, wie Doktor Jones fand.

      Ihre Tochter war sehr still gewesen und ich glaube, dass die Irrenanstalt und ich ihr ziemliche Angst eingejagt hatten. Die nächsten Tage kam sie nicht mehr zu Besuch und ich hatte ihre Eltern für mich alleine.

      KAPITEL 2

      Helios - Sonnengott, lenkt den Sonnenwagen über den

      Himmel, folgt der Eos

      Zielstrebig steuerte ich auf die Empfangshalle zu, passierte eine letzte Schiebetür und fand mich in einer großen sonnendurchfluteten und lärmigen Halle wieder.

      Überall standen Menschen, redeten durcheinander und freuten sich lautstark über das Wiedersehen, kleine Kinder schrien und…

      »Clara! Hier drüben.«

      Ich reckte den Hals nach der Stimme, war aber zu klein, um über das Gedränge hinwegsehen zu können. Ich wurde einfach von der Masse mitgezogen und weiter zum Ausgang gedrängt. Links rempelte mich eine Frau an und von hinten trat mir jemand auf die Ferse. Vollidioten.

      In meinem Inneren spürte ich, wie meine Klaustrophobie in mir aufkeimte. Meine Eingeweide zogen sich zusammen und das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich hatte plötzlich das Gefühl zu groß für meinen Körper zu sein und bekam Schweißausbrüche.

      Mit einem erstickten Schrei machte ich einen Satz nach vorne, drängte mich grob an den Leuten vorbei, setzte meine Ellenbogen ein und erkämpfte mir meinen Weg aus dem Gewühl. Hinter mir protestierte jemand. Leck mich doch!

      Ich erreichte den Ausgang, stolperte ins Freie und rang gierig nach Sauerstoff. Dicke Abgase erfüllten meine Lungen. Autos, Shuttles und Taxis verpesteten die Luft um mich herum.

      Aber allemal besser als die Enge der Empfangshalle.

      Ich wollte da nicht wieder rein, aber ich musste meine neue Familie finden, die sich bestimmt schon wunderte, wo ich war. Wo ihre verrückte Adoptivtochter steckte.

      »Clara, Sweety«, Brenda tauchte vor mir auf, ihr Blick war besorgt. »Wo läufst du denn hin?«

      Ich suchte nach den richtigen Worten, um mein seltsames Verhalten zu erklären.

      Ich fand sie nicht, aber Brenda verstand mich scheinbar auch so. Sie drückte mich an sich, typisch für sie und ich atmete ihren frischen Geruch ein, der den Knoten in meinem Magen ein wenig löste.

      »Es ist so schön, dass du jetzt hier bist. Wir haben uns alle so auf dich gefreut. Ich hoffe, du hattest einen guten Flug, Darling«, sagte Brenda sanft und schob mich auf Armeslänge von sich, um mich eingehend zu mustern, und lächelte schließlich.

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