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hatte es in der letzten Zeit so oft wiederholt, wie oft genau wusste sie schon gar nicht mehr. Bestimmt tausendmal, aber so weit konnte sie noch gar nicht zählen.

      »Yara, Yara Bright…«

      Wenn sie sich schon an nichts anderes mehr erinnern konnte, dann durfte sie zumindest sich selbst nicht vergessen. Das war wichtig, das wusste sie. So viele Dinge hatte sie schon vergessen, zum Beispiel, welcher Tag heute war, ob es immer noch Sommer oder schon Herbst war. Sie konnte sich auch nicht mehr an die blendende Helligkeit der Sommersonne erinnern. Oder wie es sich anfühlte von ihren Sonnenstrahlen auf der Nase gekitzelt zu werden. Der Geruch von frisch gemähtem Gras und die prachtvolle Vielfalt der bunten Blumen im Garten waren aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Aber vor allem wusste sie nicht mehr, wie sie hierhergekommen war. Da war eine dunkle Lücke in ihrem Kopf, die die Erinnerungen daran verdrängte.

      Ihr fehlte Nähe, körperliche, menschliche Nähe und sie sehnte sich nach Geborgenheit und der Wärme eines vertrauten Heimes.

      Ihr war kalt, so kalt. Eiskalt! Sie saß zitternd auf dem nackten Betonboden, die Arme um die dünnen Beine geschlungen, die nur in kurzen sommerlichen Shorts steckten. Sie zitterte vor Kälte, aber auch vor Angst, bodenloser, schwarzer Angst, die ihren kleinen Körper packte und durchschüttelte.

      »Yara… Yara… Mein Name ist Yara.«

      Ihre piepsige, kraftlose Stimme verlor sich in der schummrigen Dunkelheit um sie herum.

      Sie wiegte sich vor und zurück und flüsterte ihren Namen wie ein beruhigendes Kinderlied, wie eines das ihr Daddy im Auto mit ihr gesungen hatte, wenn er sie morgens in den Kindergarten gefahren hatte.

      Ihr Körper war schon ganz steif gefroren und weiße Wölkchen bildeten sich beim Ausatmen in der Luft vor ihrem Gesicht.

      »Yara, Yara, Yara…«

      Eine neue Angstwelle ergriff sie und durchflutete ihr ganzes Sein, füllte sie aus bis in die kleinste Zelle. Sie hatte vor so vielem Angst. Davor ihren Namen zu vergessen, Angst vor der Dunkelheit, in der sie saß, und vor allem aber hatte sie Angst vor ihm.

      Sie verstand nichts von dem, was er sagte oder ihr antat. Sie wusste auch nicht, warum sie hier eingesperrt war und warum er sie nicht gehen ließ. Ihr Verstand begriff das Ausmaß ihrer Situation nur bedingt.

      Als sie vor Kälte erschauderte, fingen ihre Zähne an zu klappern. Sie schlugen aufeinander und das schaurige Geklapper hallte von den nackten Wänden wider, die sie umschlossen. So sehr sie sich auch bemühte die Zähne aufeinander zu pressen, sie schaffte es nicht, ihr Kiefer hatte sich verselbstständigt.

      Und dann, mitten in die Dunkelheit hinein, ertönte das Geräusch von schweren Schritten auf einer Holztreppe, die nach unten kamen. Zu ihr.

      Ihr Herzschlag verdoppelte sich und galoppierte los. Sie schnappte panisch nach Luft. Mit jedem knarzenden Schritt wuchs ihre Angst.

      »Yara, ich heiße Yara Bright! Yara, Yar… Yaya…«

      Vor Panik verhaspelte sie sich, verschluckte fast ihre Zunge.

      Er kam!

      Was würde er ihr dieses Mal antun? Würde er ihr wieder wehtun, sie auf Knien betteln lassen, sich ganz nah vor sie setzen und sie einfach aus seinen blutunterlaufenen Augen anstarren?

      Egal was er tat, sie würde wieder ein Stück mehr vergessen und ein bisschen mehr von sich verlieren. Es würde immer so weitergehen, bis sie sich selbst ganz vergessen hatte und verloren war im Würgegriff der Zeit.

      Jetzt waren die Schritte auf massivem Boden zu hören, kamen immer näher und näher.

      Sie versuchte nicht zu schreien, das mochte er gar nicht.

      Aber die Angst, die sich jetzt in ihr Gehirn fraß, war nicht mit der Angst von gerade eben zu vergleichen. Sie war viel schrecklicher und zerstörerischer.

      Ein Schloss wurde klickend geöffnet. Sie zitterte heftiger.

      Klick. Ein zweites Schloss wurde entriegelt. Sie bekam keine Luft mehr.

      Klick. Schloss Nummer drei war offen. Ihr wurde schlecht.

      Und mit einem lauten Scharren wurde der Riegel zurückgeschoben.

      Als die Tür geöffnet wurde, war sie halb ohnmächtig vor Angst. Yara, der Name hallte durch ihren Kopf. Gelähmt starrte sie auf den schmalen Streifen Helligkeit, der plötzlich durch den Türspalt sickerte.

      Flimmerndes Licht der brummenden Leuchtstoffröhren drang ins Zimmer, als die Tür aufgezogen wurde.

      Von der plötzlichen Helligkeit geblendet, nahm sie nur den verschwommenen Umriss einer großen, hageren Person wahr.

      Aber das reichte, um sie in Tränen ausbrechen zulassen.

      KAPITEL 1

      Eos - Göttin der Morgenröte, fährt in ihrem Wagen über den

      Himmel

      Die Helligkeit durchdrang meine geschlossenen Lider und tauchte die Welt für einen Augenblick in rotes Licht. Geblendet blinzelte ich und erspähte durch schmale Augen den Sitz vor mir. Stöhnend richtete ich mich auf und versuchte mich in meinem engen Platz zu strecken. Mir schmerzte der Rücken, als ich mich gerade hinsetzte und als ich versuchte meine Glieder zu dehnen, stieß ich mit den Knien gegen den Sitz vor mir. Meine Zunge fühlte sich pelzig an. Igitt. Immer noch leicht benommen zog ich die verrutschte Schlafbrille vom Kopf und stopfte sie in die dazugehörige Netztasche. Die Ohropax ließ ich aber lieber in den Ohren, denn das laute Brummen der Maschine hörte ich sogar durch sie hindurch.

      Verschlafen ließ ich meinen Blick durch das Flugzeug schweifen, das sich in dreizehntausend Metern Höhe über dem Erdboden befand. Die meisten Leute um mich herum waren wieder wach, schauten Filme oder unterhielten sich leise miteinander. Der kleine Quälgeist von Platz 30E hing seinem müde aussehenden Vater schlafend über dem Schoß und sabberte.

      Einige Passagiere hatten sogar schon das Frühstück vor sich stehen und ich sah die zwei rothaarigen Stewardessen mit ihrem Getränkewagen den Gang runterkommen. Wasser! Ich brauchte Wasser.

      Die Schlaftablette hatte ganze Arbeit geleistet und mich mehrere Stunden außer Gefecht gesetzt. Ein Zustand, der mir absolut zuwider war, konnte doch jeder in solchen Momenten mit mir machen was er wollte. Ich hasste es, die Kontrolle zu verlieren. Und noch mehr hasste ich meine Paranoia, die mich immer wieder an meine Grenzen brachte und mich in den Wahnsinn trieb. Etwas, das ich über die Zeit hinweg zu verbergen gelernt hatte und das niemals an die Oberfläche drang, wenn ich es nicht zuließ! Naja, meistens jedenfalls. Manchmal überkam mich eine Welle der Angst ganz unerwartet und erwischte mich eiskalt.

      Meine eiserne Regel lautete: Lass die Leute nicht sehen, wie verrückt du wirklich bist.

      Nichtsdestotrotz war das hier mein erster Flug und meine Psychologin war der Meinung gewesen, dass jemand wie ich es besser ertragen würde, wenn man mich ruhigstellte.

      In kleinen Schlucken genoss ich das prickelnde Wasser und schaute aus dem Fenster, hinaus auf die schneeweißen Wolken unter uns. Ich konnte das Land in der Tiefe nur schwer ausmachen, aber es sah jetzt schon ganz anders aus als meine Heimat. Brauner und trockener. Und viel, viel größer.

      Manchmal war es immer noch unvorstellbar für mich, dass all das Wirklichkeit war. Es war wie ein riesengroßes, buntes Geschenk nur für mich alleine. Und selbst jetzt, mehr als drei Jahre danach, wollte oder konnte ich mich immer noch nicht daran gewöhnen, aus Angst, dass man es mir gleich wieder entreißen wollte.

      Das war ein Grund, weshalb ich so minimalistisch wie möglich lebte. Ich besaß weder ein Smartphone noch einen MP3-Player oder anderen technischen Schnickschnack. Von der neusten Mode hatte ich keinen blassen Schimmer und es war mir auch egal. Es war nicht wichtig.

      Das Einzige, aus dem ich mir wirklich etwas machte, waren Bücher. Es fühlte sich gut an, ein schweres

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