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den Unterschied zu kennen zwischen dem aufgeklebten Preisschild und dem tatsächlichen Wert einer Sache. Nicht nur finanziell gesehen, sondern auch und viel wichtiger in Bezug auf Lebensqualität, unsere eigene wie auch die der anderen.

      Nicht schlechtes Gewissen, sondern Vernunft hilft wie auch die Kultivierung einer grundlegenden menschlichen Empathie gegenüber allen lebenden Wesen und gegenüber uns selbst, was nichts anderes heißt, als den eigenen Wert anzuerkennen. Auf einem Planeten, dessen Bevölkerung auf die zehn Milliarden zusteuert, von denen mehr als die Hälfte in Städten lebt, ist das Finden eines Gleichgewichts, das uns erlaubt, harmonisch miteinander zu leben und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen auszukommen, kein Akt grenzenloser Großzügigkeit. Es ist eine Überlebensstrategie.

      FETISCH

       [NICHTS HAT SO VIEL ERFOLG WIE EXZESS.]

      Fetisch bedeutet laut Wörterbuch – unter anderem – »eine exzessive und irrationale Fixierung oder Hingabe gegenüber einer bestimmten Sache«. Wir befinden uns also im Bereich der Irrationalität und damit einem Konzept, das für den Kontext einer Debatte über Wert wohl gar nicht so unpassend ist. Wir alle sind Menschen und fühlen und handeln in vielem irrational. Tatsächlich können wir nur rational sein, wenn wir Dinge durchdenken. Viel öfter agieren und reagieren wir instinktiv, auf Impuls.

      Marketingleute wissen das und nutzen es schamlos aus. Sie verwandeln uns in Fetischisten, und wir lieben es, denn es bereitet uns körperliche Freude, uns irrational hinzugeben – einem Schuh, einem Auto, einem Smartphone, einem Duft, dem unglaublich attraktiven Körper, der gezeigt wird, um uns den Duft zu verkaufen.

      Nichts an dem ist verwerflich, auch wenn es durchaus verwerfliche Aspekte daran geben mag, wie Werbung und Marketing in dein Gehirn eindringen, um Bedürfnisse und Gelüste in deinem Geist erwachsen zu lassen, die du vielleicht gar nicht willst. Aber Exzess ist nicht grundsätzlich falsch. »Mäßigung ist eine fatale Sache, nichts hat so viel Erfolg wie Exzess.« Auch das hat der schon zitierte Oscar Wilde gesagt. In seinem Fall erwies sich das als wahr und fatal zugleich, aber vielleicht gibt es ja auch so etwas wie moderaten Exzess.

      Wenn alle sich ständig vernünftig verhielten und niemand jemals den Bogen überspannte, dann könnte daraus vielleicht eine sichere und wohlhabende Gesellschaft entstehen, aber es könnte auch sein, dass alle vor Langeweile sterben.

      Damit Neues passieren kann, damit eine Zivilisation gedeihen und Innovation entspringen kann, sind Formen des Exzesses und des Fetischs notwendig. Wenn du dich nicht zwanghaft auf die Linien des Torsos deiner Skulptur fixierst, wie wirst du dann Michelangelo? Wenn es dir egal ist, ob das Orchester den Mollakkord für eindreiviertel Takte hält oder für eineinhalb, was für ein Dirigent bist du dann? Wenn dir jedes Blau recht ist, wie wirst du dann Monet oder Picasso?

      Dasselbe gilt natürlich auch für Wissenschaft und Sport. Während wir diese Zeilen schreiben, erscheint das Bild des triumphierenden Kyle Giersdorf auf dem Bildschirm, wie er eine Trophäe emporhält und seine drei Millionen Dollar Preisgeld für den Sieg in der ersten »Fortnite«-Weltmeisterschaft zelebriert. Er ist 16 Jahre alt. Wir wissen nicht besonders viel von dem jungen Meister, außer dass er Amerikaner ist, sein Spielername Bugha lautet und er 99 andere Spieler schlug, alle männlich und alle ungefähr in seinem Alter. Die Konkurrenz im Kampf um die Teilnahme am Finale in New York war hart. Viele Tausende haben es versucht. Viel ließe sich spekulieren über Bugha, einer Sache können wir jedoch sicher sein: Er ist ein zwanghafter »Fortnite«-Spieler. Wäre er es nicht, hätte er es nicht an die Spitze geschafft.

      Die Spanne der »Normalität« müssen wir also erst festlegen und können dann entscheiden, wer oder was hineingehört und was nicht. Roger Federer ist nicht normal. Er ist ein wunderbarer Tennisspieler und ein wahrer Gentleman, es gibt niemanden, der ihm gleicht. Und die Welt wäre wahrlich ärmer dran ohne ihn. Wir brauchen Menschen, die nicht normal sind, und wir müssen es uns gestatten, komplett unvernünftig zu sein von Zeit zu Zeit. Im richtigen Kontext. Zur richtigen Zeit. Im Rahmen des Vernünftigen … Klingt logisch?

      FÜRSORGE

      Was ist uns wichtig? Als Individuen? Als Gesellschaft?

      Auch diese Frage ist nicht neu. Jede Generation, jedes Jahrhundert, jede Epoche muss sich fragen: Was ist uns wichtig? Was schätzen wir auf der untersten Ebene, und was heben wir hervor, fetischisieren und feiern wir?

       [VON DEN ANDEREN 27 MAHLZEITEN WIRD DIR NUR SCHLECHT.]

      Was kümmert uns, und wie kümmern wir uns? Wie kommt es, zum Beispiel, dass wir Fußballer und CEOs so sehr schätzen, dass wir ihnen an einem Tag das bezahlen, was wir dem durchschnittlichen Schullehrer im Jahr bezahlen? Nicht zu vergessen, dass deine Kinder im Schnitt mehr Zeit mit ihrem Schullehrer verbringen als mit dir. Wie spiegelt sich das, was uns wichtig ist, in unserer Wertschätzung und Fetischisierung wider? In unserer Entlohnung?

      Vielleicht geht es nicht um Geld. Ab einem gewissen Wohlstandsniveau wird es – wie gesagt – irrelevant. Man wird nicht glücklicher davon, sich 30 Mahlzeiten am Tag leisten zu können, es sei denn, man möchte neun weitere Menschen ernähren. Das könnte dich glücklich machen. Von den anderen 27 Mahlzeiten wird dir nur schlecht.

      Die digitale Moderne hat beachtliche Umbrüche mit sich gebracht, aber uns auch in eine Lage versetzt, in der wir alles mit frischem Blick betrachten können. Ähnlich wie die Renaissance die Zentralperspektive als völlig neu eröffnet und geholfen hat, die Welt auf ganz neue Weise zu begreifen, erlaubt uns auch unsere Ära unsere Lebensweise, um neue konzeptuelle Dimensionen zu erweitern. Und es ist sicher nicht zu viel gesagt, wenn wir sie als neue Formen der Zivilisation betrachten. So viel kann dazu schon gesagt werden: Wenn wir in diesen Dimensionen eine Rolle als bedeutsame menschliche Wesen spielen wollen, werden wir sie definieren und formen und auch verhindern müssen, dass die Welle technologischer Entwicklungen über uns hereinbricht und uns hinwegspült.

       [GELD IST EINE ERFINDUNG.]

      Zum Beispiel könnte das globale Dorf, das das Internet möglich gemacht hat, weniger als eine große Masse verstanden werden, sondern als unterschiedliche, facettenreiche, sich gegenseitig befruchtende Organismen, die sich zu einem viel größeren Organismus vernetzter Wesen verbinden. Du wirst im Laufe dieses Buches viel von »Wesen« lesen, denn wir wollen Menschen, Mensch-Maschine-Hybride und Maschinen aller Größen und Arten miteinbeziehen.

      In diesem globalen Dorf haben wir eine deutliche Bewegung in Richtung kommerzieller Vertikalisierung erlebt. Das ist das Gegenteil von dem, was zuvor passierte. Vorher, in der Horizontalisierung, gab es viele große Firmen und Unternehmen, die über eine weite geografische Fläche verteilt waren, indem sie zum Beispiel so viele Läden wie möglich eröffneten, um sich einen Marktanteil zu sichern.

      Heute funktioniert das nicht mehr. Stattdessen kann man einen ortlosen Monolithen bauen, wie Amazon, und alles von einigen wenigen über den Globus verteilten Zentren aus betreiben. Und mit »alles« meinen wir ziemlich wörtlich alles. Amazon ist schon lange kein einfacher Vertrieb mehr, sondern bietet hochspezialisierte Dienstleistungen an, nicht nur für Konsumenten, sondern auch für andere globale Unternehmen, wie zum Beispiel digitales Streamen für die BBC. Es besitzt und betreibt Kurierdienste, verwaltet einen Teil seines eigenen interkontinentalen Versands und besitzt sogar die physische Whole-Food-Biosupermarkt-Kette, nur um auch bei diesem Spiel die Finger mit drin zu haben.

      Im Angesicht solcher Konzentration von Macht haben wir Bürger, Konsumenten, Menschen nur eine Chance, wenn uns klar ist, was wir von denen, die über diese Macht verfügen, verlangen. Und das ist Transparenz. Radikale Offenheit. Und Fürsorge. Für uns, für unsere Rechte und Freiheiten und für unseren Planeten.

      Und glaub nicht, dass die Mächtigen zu mächtig oder die bestehenden Strukturen zu gefestigt sein können, um herausgefordert oder gar verändert zu werden. Denn alles, was wir an unserer Zivilisation für fix, fest und gewiss halten, ist tatsächlich flexibel. Es ist alles ausgedacht. Oft über Jahrhunderte hinweg, mit extrem guten Absichten und vernünftig durchdacht. Aber es ist eine Erfindung.

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