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gelegt, die in der Nachkriegszeit ins Leben gerufen wurden.

      Heute brauchen wir eine Charta, die gesetzlich das Wohlbefinden und die Integrität für alle Netzwerkbeteiligten verewigt und alle mächtigen Parteien – seien sie Nationalstaaten oder globale Konzerne – verpflichtet, sie zu respektieren, zu schützen und aktiv zu fördern.

      Dass dies ein globales Unterfangen sein muss, ist klar. In einer global vernetzten und verbundenen Welt werden globale Werte immer wichtiger, nicht nur weil Menschen über die begrenzenden Horizonte ihres eigenen Ursprungs und ihrer Wohnorte hinwegblicken können und wollen, sondern auch weil wir in eine immer globaler werdende Kultur eingebettet sind. Heißt das, dass wir unsere lokalen und regionalen Identitäten aufgeben müssen?

      David Goodhart, ein britischer Journalist und Autor, Gründer und Redakteur des Prospect Magazine, hat eine klare Unterscheidung zwischen »irgendwo« und »überall« formuliert.

      »Irgendwo«-Menschen sind Leute, die durch ihren Job, ihre Familie und Freunde, ihre emotionalen Bindungen und wirtschaftlichen Einschränkungen an einen Ort gebunden sind. Sie sind tendenziell weniger gebildet und schätzen, wie er sagt, »Gruppenbindung, Vertrautheit und Sicherheit«. »Überall«-Menschen dagegen können tatsächlich überall sein: Sie sind typischerweise gut gebildet und entweder Single oder in einer Beziehung ohne weitere Verantwortung dafür, oder sie haben eine Familie, die sie mitnehmen können. Sie können in Barcelona leben und ihren Laptop zur Arbeit nach Berlin tragen, ein paar Tage mit Freunden in Hongkong verbringen, einen Freelance-Job in Delhi übernehmen und sich dann übers Wochenende in New York erholen – ganz wie es ihnen gefällt. Solange sie ihre Internetverbindung haben, sind sie funktionsfähig; und ihr Blick auf die Welt, ihr soziales Netzwerk und ihre Arbeitsbeziehungen reflektiert das. Laut Goodhart schätzen sie »Autonomie, Offenheit und Fluidität«.

      Wir vermuten, dass viele von euch, die das hier lesen, »Überall«-Menschen sind. Wir sind es gewiss. Goodhart erklärt weiterhin, dass »Überall«-Menschen – zumindest in England – nur etwa ein Viertel der Bevölkerung ausmachen, aber über verhältnismäßig viel Einfluss und Macht verfügen, unabhängig davon, auf welcher Seite des politischen Spektrums sie sich befinden. Er weist darauf hin, dass die politische Vernachlässigung, die die »Irgendwo«-Menschen erlebt haben, sie zur Wahl des Brexits geführt haben. Und das Gleiche kann sicherlich für die Wahl Trumps in den Vereinigten Staaten gesagt werden.

      Aber auch wenn du global noch so gut vernetzt bist, ein extrem mobiler, polyglotter, globetrottender »Überall«-Mensch bist, hast du immer noch eine Herkunft. Du hast immer noch eine Familie, einen Ursprung, einen Freundeskreis. Und du machst dir Sorgen, wenn der Müll auf deiner Straße nicht abgeholt wird oder es in deiner Nachbarschaft zu Messerstechereien kommt. Lokale Anbindungen, persönliche Beziehungen und deine Wurzel verschwinden also nicht: Selbst das globale Dorf hat einen kleinsten gemeinsamen Nenner, und das ist immer noch die Familie. Wie man Familie definiert, hat sich unter Umständen jedoch beachtlich geändert. Jenseits von Patchworkfamilien, Alleinerziehenden und Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern – allesamt bis vor 25 Jahren nicht voll anerkannt – sehen viele Menschen in der Familie heutzutage nicht mehr nur Blutsbande, sondern auch enge Freunde, mit denen sie familienartige Beziehungen führen.

      Als »Überall«-Mensch identifizieren wir uns tendenziell nicht mehr so sehr mit unserer Nationalität. Das heißt nicht, dass wir nicht Teil von etwas sind. Wenn man eine große Stadt wie London oder Tokio oder einen Stadtstaat wie Singapur besucht, wird sofort klar, dass die Leute sich dort sehr zu Hause fühlen. Solange sie eben da sind. Und wenn sie in eine andere Stadt weiterziehen, dann werden sie für die nächsten Jahre eben sagen, dass sie von dort sind.

       [WIR WOLLEN IMMER NOCH ALLE DAS GEFÜHL HABEN DAZUZUGEHÖREN.]

      Worauf wir hier den Blick richten wollen, ist die simple Tatsache, dass wir keine fixen Bezugspunkte mehr haben, um unsere Identität festzulegen, was aber nicht bedeutet, dass für uns andere Menschen, tatsächliche Orte und gemeinsame Werte nicht mehr existieren oder keine Bedeutung mehr haben. Einige GAFATA-Konzerne, darunter Google und Facebook, fördern eine Unternehmenskultur, die sehr nach nationaler Tradition klingt und so erscheint. Sie haben einen Verhaltenskodex und eine interne Sprache, die alle Neuzugänge lernen und anerkennen müssen, selbst wenn das vertraglich nie irgendwo erwähnt wird. In manchen großen Firmen ist die Anerkennung des Firmenethos tatsächlich Teil des Anstellungsvertrages.

      Ob du jetzt Teil eines »Tribe« bist, der sich durch Musikgeschmack und Klamotten definiert, oder »die Marke lebst«, die dein globaler Arbeitgeber verkörpert; ob du täglich mit deinen Eltern skypst, die 2000 Kilometer entfernt leben, oder bei deiner Oma durchklingelst, um zu hören, ob sie einen schönen Samstagnachmittag verbringt: Wir wollen immer noch alle das Gefühl haben dazuzugehören.

      Seit dem Beginn der digitalen Moderne – markiert durch den verbreiteten Gebrauch des Internets um die Jahrtausendwende herum – hat die Teilnahme an Festivals und Livekonzerten zugenommen; Livetheater und Großformatkino, drinnen wie im Freien, florieren, immersives Gaming, Abenteuer und narrative Erlebnisse schießen nur so aus dem Boden. Gleiches gilt für Virtual Reality (VR) und Crossover-Zeitvertreib, siehe »Pokémon Go« oder »Ingress«. Wir sehnen uns ganz klar immer noch nach körperlichen Empfindungen, jedoch nicht zwingend denselben wie im prädigitalen Zeitalter. Immerhin hat eine Analyse umfangreicher Datensätze, 1991, 2001 und 2012 erstellt vom British National Survey of Sexual Attitudes and Lifestyles, ergeben, dass Leute über alle Altersgruppen hinweg heutzutage weniger Sex haben als vor 20 Jahren, zumindest in Großbritannien. Vielleicht sind sie deswegen zurzeit so mies drauf …

      Noch ein abschließender Gedanke zur Beziehung zwischen körperlicher Welt und digitaler Existenz. Seit den frühen 1980er-Jahren hat sich mit der Gründung von The Seasteading Institute (TSI) im Jahr 2008 allmählich der Begriff »seasteading« etabliert. Die Idee eines Seastead bezeichnet die Gründung von unabhängigen Gemeinschaften auf hoher See, die daher keinem nationalen Territorium angehören und folglich freie Hand haben, ihre eigenen Regeln und Gesetze zu befolgen.

      Laut UN-Konvention des Seerechts beginnt die hohe See 200 Seemeilen, also 370 Kilometer, von der Küstenlinie entfernt. Wenn man sich auf hoher See befindet, fällt man unter keine weitere Rechtsprechung als diejenige des Landes, unter dessen Fahne man segelt. Folglich, so die Logik, kann man, wenn man eine dauerhafte Gemeinde auf hoher See errichtet, dort seine eigene Fahne hissen und komplett unabhängig von jeglichen bestehenden Gesetzen sein: Man kann seine eigene Gesellschaft gründen.

      Es sind noch keine funktionalen Seasteads gebaut worden, aber das TSI beschreibt auf seiner Website in einem kurzen Einführungsvideo Seasteads als »schwimmende Städte, die Leuten die Möglichkeit geben werden, neue Ideen über ein friedliches Zusammenleben testen zu können« und auf diesem Weg »die erfolgreichsten florierenden Gesellschaften entstehen [zu] lassen und Wandel auf der ganzen Welt [zu] inspirieren«. Es wird darauf hingewiesen, dass die Hälfte der Erdoberfläche aus unbeanspruchtem Territorium bestehe und schwimmende Städte daher wie »Start-up-Länder« am »blauen Horizont« funktionieren könnten. Das Seastead-Konzept wird verglichen mit digitalen Innovatoren und Disruptoren, deren intellektuelle, unternehmerische und Pioniereinstellung für die Entwicklung von Verfassungen und die Verwaltung von Gesellschaften ein immenses Potenzial freilegen könnte. Frei von den bröckelnden Regierungsinstitutionen und Staaten, die die Kreativität und die Ressourcen der Leute auszehren.

      Interessant an der Idee des Seasteading für uns hier ist, dass es in ihrem Kern um den Wunsch geht, völlig neue gesellschaftliche, ökonomische und ethische Richtlinien zu erschaffen, und geografische Orte – einzelne Seasteads – miteinander um Anwohner wetteifern. Jene, die erfolgreich sind, werden florieren wie ein erfolgreiches Start-up, jene, die fehlschlagen, werden einfach verlassen und hören auf zu existieren.

      Die praktischen Probleme eines Seastead einmal beiseitegelassen, stellt die theoretische Konzeption ein faszinierendes Beispiel von Tabula-rasa-Denken dar, das womöglich immer notwendiger wird: nicht nur wenn wir von schwimmenden Städten draußen auf dem Ozean träumen, sondern, viel näher an unseren drängenden Problemen, in Bezug auf die Verwaltung unserer Netzwerke.

      Zum Abschluss dieses Kapitels

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