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Kerzenschein und eine gute Tasse englischen Tee, dazu diese wunderbaren Kekse, die Johanna immer auf Vorrat in einer Blechdose aufbewahrte.

      Bertel, Wilhelmines erstes Kind, das größte Wunder, das ihr widerfahren war, genoss ihre uneingeschränkte Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit jederzeit. So sehr, dass er sich davor hüten musste und dass er genau überlegte, wieviel er ihr jeweils erzählte von seinem eigenen Leben.

      Erst nach dem Tod der Mutter fühlte er sich freier. Da war er 58 Jahre alt, hatte noch mehr als 30 Lebensjahre vor sich und würde am Ende seines Lebens noch einmal zurückfallen in Geheimnisse, die sich erst nach seinem Tod enthüllten.

      Wilhelmine hielt sich, so lange sie lebte, bereit für ihre Kinder. Wenn sie zu ihr kamen, öffnete sie ihre Arme. Sie durften sich bei ihr aussprechen, wenn sie wollten, was allerdings sehr selten vorkam. Meistens wurden die Fakten poliert und verpackt, bevor man sie der Mutter servierte. Man wollte sie schonen, sie sollte doch stolz sein können auf ihre Kinder, man wollte, dass sie ruhig schlafen konnte, dass sie der Zukunft vertraute bis über ihren Tod hinaus. Als ihr Mann noch lebte, hatte sie mit ihm über all ihre Sorgen und Zweifel sprechen können. Als er starb, musste sie versuchen, sich wechselnde Gesprächspartner zu suchen. Eine Zeit lang hatte sie ihre Schwestern Lene und Sofie. Die drei wuchsen im Alter enger zusammen, als sie sich je zuvor gefühlt hatten. Sie hegten und pflegten den Schatz der gemeinsamen Erinnerungen.

      Wilhelmine begann das Briefeschreiben. Was sie vom einen erfuhr, gab sie an andere weiter, hoffte, im Gegenzug dafür mit einer Enthüllung belohnt zu werden, einem kleinen Blick hinter die schönen dichten Vorhänge, die ihre Familie ringsum sie her raffte und rüschte wie Theaterkulissen in einer Operette. So war das Leben nicht, es konnte so nicht sein, so harmonisch, voller Erfolge, Glück und Liebe! Aber was will man machen?

      Ihre zwei letzten Lebensjahre lebte Wilhelmine bei ihrer ältesten Tochter Johanna und deren Mann. Die beiden ließen es ihr an nichts fehlen. Mine konnte diese Zeit genießen, manchmal jedenfalls. Sie liebte die Besuche ihrer Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder. Und stolz ließ sie sich ihr erstes Urenkelkind, die kleine Beate, Richards Tochter, auf den Schoß setzen. Sah ihr in die dunklen Augen und meinte, dass es die Augen von ihrem Paul sein könnten, mandelförmig, ein bisschen eng beieinander stehend. Zwei Schlitze, wenn es ihr gelang, die Kleine zu erheitern, nicht durch Kitzeln, das wäre zu plump, sondern durch einen kleinen Vers, ein leise gesummtes Liedchen, einen Aufzählreim, einen unerwarteten Ton, einen Gickser vielleicht und eine lustige Grimasse dazu.

      All das hatte sie in sich aufbewahrt für diese Zeit, die Zeit des Zurückblickens, die Zeit der Vorbereitung auf das Nicht-mehr-Sein. Immer leichter wurde ihr beim Blick in die Zukunft. Der Tod würde nicht in ein schwarzes Loch führen, sondern in ein helles Licht, das alles Gewesene ausblendete. Diese Gewissheit nahm allmählich zu.

      Die Urenkelin

      Irgendwann zwischen dem

      3.10.1997 (Richards Todestag)

      und 20.1.2020 (heute)

      Richard findet schnell und problemlos ins Rauchereck. Man winkt ihm schon von Ferne: „Komm zu uns herüber, hier gehörst du hin.“

      Männer und Frauen jeden Alters sitzen und stehen beieinander. Sie halten den Glimmstengel zwischen ihren Zeigefingern und Mittelfingern, manche auch so wie beim Kommiss, die Glut dem Handrücken zugedreht, eingeklemmt zwischen Mittelfinger- und Daumennagel. Die dort mit der Zigarettenspitze, das ist doch ... Marlene? Hinter dem Dunst der Zigarette changiert ihr Gesicht, ist jung, ist alt, ist unschuldig, neugierig, traurig, enttäuscht, lockt lasziv. Direkt neben ihr sitzt auf einem schweren Samtsessel ein dicker Mann mit selbstgefälligem Grinsen, aber aus den Augen blitzt es eher verschmitzt als maliziös und gleich darauf ist das Lächeln verflogen, Zigarrenrauch vernebelt ihn, es scheint, als ob seiner prallen Silhouette Luft entweicht und seine Haare verwandeln sich, werden voller, dunkelblond ...

      „Na, was ist, willst du eine rauchen?“

      Richard nickt.

      „Du bist neu hier?“

      Er nickt wieder.

      „Bist du überrascht?“

      „Ich habe den Eindruck, es ist gar nicht so viel anders als früher ...“

      „Früher, später, diese Kategorien gibt es hier nicht. Genauso wenig gibt es Nähe und Ferne. Wir sind immer überall. Wenn wir es wollen. Oder jederzeit an einem beliebigen Ort und zugleich anderswo, jeder von uns. Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick.“

      „Sind auch die schon hier, die eigentlich noch nicht ...“

      Der andere nickt.

      „Irgendwo immer.“

      „Sind wir auch selber mehrfach hier? Können wir uns selbst begegnen?“

      „Du bist neugierig. Hast du dich schon lange auf diesen Augenblick vorbereitet?“

      „Immer wieder einmal.“

      „Jetzt hast du erst einmal einen Wunsch frei.“

      „Hinunterschauen.“

      Der andere lacht: „Es ist nicht unten, wir sind nicht oben, wir sind mittendrin.“

      Richard dreht sich langsam um, wendet sich ab von den anderen Rauchern, sieht nah oder fern, er wüsste es nicht zu sagen, eine ältere Frau an einem Schreibtisch sitzen. Er deutet mit dem Finger auf sie.

      „Du willst wissen, wer das ist und was sie tut? Das ist Beate, deine Tochter. Sie schreibt gerade an ihrem neuen Roman.“

      Richard kann über die Schulter der Frau auf den Bildschirm schauen und schnell fast gleichzeitig alles lesen, was sie schreibt.

      Er nickt und grinst.

      „Sie schreibt von mir.“

      „Nicht nur das. Sie schreibt die Geschichten, die du damals aufgeschrieben hast, und da lag eine Zukunft für dich drin ...“

      Richard lächelt. Es tut nicht weh und es tut nicht gut. Es ist einfach so, wie es ist.

      Nach dem Triumph bei den Olympischen Spielen von 1936 in Berlin, wo er oben stand mit den anderen Trompetern, er war 13, breitbeinig und siegesgewiss, blieb ihm etwa ein Jahr, um sich endlich angekommen zu fühlen in der Rolle, die seine Mutter für ihn vorgesehen hatte: Er war ein strahlender Held. Einer, dem etwas gelungen war. Ein Jahr später hatte das Schicksal ihm eine andere Rolle zugedacht.

      „Er ist ein Krüppel und er wird es bleiben. Ein Hinkebein, ein Verlierer.“

      Das hörte er den Vater sagen, als er wenige Tage nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus am Abend vor der Küchentür stand und durch den schmalen Spalt hineinspickelte. Da der Vater gleich darauf zu seinem Taschentuch griff und sich heftig schnäuzte, glaubte Richard zu wissen, dass er geweint hatte. Der Vater hatte über seinen Sohn, den Krüppel, geweint.

      Ein Felgaufschwung! Er selbst hatte auf den 2,60-m-Wettkampfhöhe der Reckstange bestanden, seit Berlin fühlte er sich wie Richard Löwenherz, stark, unbesiegbar. Dann abgerutscht, ungut aufgekommen, das Bein verdreht. Erste Operation, zwei Wochen liegen, zweite Operation, drei Wochen liegen, Mobilisation mit zwei Krücken, dritte Operation, eine „kleine“, wie man ihm versicherte, eine weitere Woche im Krankenhaus, dann Entlassung mit Krücken. Zuerst zog er ein bei der Großmutter, weil sie inzwischen im Erdgeschoss wohnte. Zwei Wochen später durfte er wieder hinauf in sein eigenes Zimmer unterm Dach. Er konnte kaum gehen mit dem steifen Bein, hatte zugenommen, hatte keine Lust mehr auf lateinische Vokabeln und das Nibelungenlied. Im Geschichtsunterricht wurde wieder und wieder die Demütigung des Versailler Vertrages breitgetreten und der Revanchismus beschworen, die Notwendigkeit, sich aus der Knebelung fremdbestimmter Friedensverträge zu befreien. In Erdkunde die „Volk-ohne-Raum“-Ideologie erläutert. Er hasste Cäsar, Erbsen blieben ihm im Hals stecken, wenn er an den Augustiner Abt aus Brünn und seine Samenkreuzungen dachte. Das Mittelalter mit seinem verdammten Minnedienst konnte ihm gestohlen bleiben, einzig Schillers Dramen vermochten es noch, seine Aufmerksamkeit an sich zu ziehen, trotzdem wurden seine Zensuren immer schlechter. An Tagen, an denen er keinen Deutschunterricht

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