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Zunächst hatte der Krieg den Menschen Zurückhaltung auferlegt, welche Frau brauchte denn dringend ein neues schickes Kleid, wenn in den Schützengräben die Männer starben? Dann wurde bei Schmoller oder Wronker Damenkonfektion angeboten, in mehreren Größen der gleiche Schnitt, das gefiel den Damen, da konnten sie sich die passende Größe aussuchen, anprobieren ohne Kaufverpflichtung und sich fühlen wie in Amerika, wo man als normal gewachsene Frau schon lange nicht mehr zu einer Schneiderin ging, bei der man ewig auf die Fertigstellung seiner Kleider hätte warten müssen, die man dann vielleicht doch nicht mochte, weil sie mit der Vorstellung, die man gehabt hatte, so gar nicht übereinstimmten. Die Sofietante und Johanna zusammen mit einem Lehrling im ersten und einem weiteren Lehrling im zweiten Jahr also hielten im Atelier „Wawrina Nachfolger“ die Fahne hoch, wer wusste wie lange noch. Helene, inzwischen Mutter von zwei Kindern, hatte sich in ihrer Wohnung im zweiten Stock in der Böckstraße sieben ein Schneideratelier eingerichtet und beschäftigte ebenfalls ein Lehrmädchen. Sie hatte sich auf Brautkleider und Abendroben spezialisiert, ihre Modelle, Modifikationen gekaufter Schnitte, stattete sie mit raffinierten Details aus und verwandelte sie in traumhafte Einzelstücke. Einmal hatte sie sich sogar mit Kolleginnen zusammengetan, einen Saal im Bürgerkeller gemietet und Paula und ihre Freundinnen führten die schönsten Modelle der letzten Saison vor, gerade so wie es einstmals Helene, Johanna und einige der gut gebauten jungen Schneiderinnen bei Wawrina gemacht hatten. Stubs stand damals am Eingang, begrüßte die Gäste und seine Mutter fiel fast in Ohnmacht, als sie auf ihn traf. Er lachte über ihre Entrüstung und schwor Helene tausend Eide, wie sehr er sie liebe bis in alle Ewigkeit hinein, die Mutter könne nie und nimmer etwas dagegen unternehmen, das sei ja lachhaft, einfach nur kalte Luft.

      Ja, alles längst vorbei! Nun musste Johanna ihrer Schwester Helene manchmal nächtelang bei der termingerechten Fertigstellung ihrer Aufträge helfen, weil Helene immer wieder von Migräne und Gelenkschmerzen geplagt wurde. Dann half ihr nur eines, sie verzog sich ins dunkle Schlafzimmer und schlief den ganzen Tag und die Nacht. Ihre Mutter holte die Kinder zu sich, ließ sie im Hof unter ihren Augen spielen und kochte ihnen ihre Lieblingsgerichte. Richard war ein lieber, ruhiger Bub, der sich stundenlang mit den Katzen beschäftigte, kleine Rinnen, Hügel und Brücken baute für seine Murmeln, in einer schönen Zigarrenkiste, die die Lenetante ihm geschenkt hatte, Insekten sammelte und beobachtete, wer es mit wem aushielt, wer wen bedrohte, fraß, erwürgte und wie lange diese Duelle dauerten. Abends ging er von Wohnung zu Wohnung, von der Großmutter hinüber zu Tante Johanna, dann zurück zur Mutter und wenn Tante Paula da war, um nach der Familie zu schauen, bettelte er sie an, ob sie ihn mitnähme in ihren „Hühnerstall“, wie Walter die Wohnung von Paula und ihren Freundinnen bezeichnete. Aber Richard blieb auf jeden Fall da, wenn Walter auf der Bildfläche erschien, wenn Hans dazu stieß und wenn die beiden im Hof mit ihm Ball spielten. Manchmal auch hießen sie ihn, sich zur Kugel rund zu machen, und dann war er der Ball, den sie einander zuwarfen. Dabei quietschte er so laut, dass sich alle Hoffenster nacheinander öffneten, schließlich auch das Omale rausschaute und einen schrillen Schrei ausstieß: Nein! Nur das nicht! Nur den Richard nicht in Gefahr bringen! Das darf nicht sein, das ist ein besonders schweres Tabu! Es wäre schlimmer als das Schlimmste, was uns allen passieren könnte! Helene würde uns umbringen, wenn ihrem Richard etwas zustöße!

      Nach dem Tod des Vaters begann wahrscheinlich bei Walter das Über-die-Stränge-Schlagen. Trinken, Rauchen, Wetten, Pokern. Ein Vater, auch wenn er nie alles von seinen Kindern weiß, ist eine Art Gewissen, eine moralische Instanz. Allein durch seine Existenz oder durch die Erinnerung an all die innigen Momente der Verbundenheit mit ihm, das Leuchten in seinen Augen, wenn man etwas gut gemacht hat, die Traurigkeit, wenn man etwas richtig versiebt hat, durch Mangel an Rückgrat und Charakter, durch Leichtsinn oder durch dieses teuflische Begehren in einer jungen Seele, wenn man einfach nur ausprobieren will, wie weit man gehen kann.

      Drei Tage nach Walters 21. Geburtstag war Paul Sömmer, der Musiker, gestorben. War längere Zeit davor schon hinfällig gewesen, von mehreren Schlaganfällen gezeichnet. Walters Lehre beim Anwaltsbüro Lanzmann Kreisler und Söhne – Fachleute für Steuerfragen – hatte er da schon abgeschlossen. Mit einem hervorragenden Zeugnis erhielt er das Angebot einer finanziellen Unterstützung für weitere zwölf Monate, um sich auf einer privaten Fachschule fortbilden zu lassen. Wohnen oder schlafen und essen sollte er nach wie vor bei der Mutter und den jüngeren Geschwistern, zumal Paula gerade mit drei Freundinnen zusammen eine Wohnung in der Lenaustraße in Mannheim-Neckarstadt gemietet hatte, oben unterm Dach, um die Selbständigkeit auszuprobieren. Das sind halt die 20er-Jahre, die jungen Frauen sind heute anders als früher, dachte Wilhelmine, weil sie eben immer alles verstehen wollte, was ihre Kinder taten.

      Walter war befreundet mit dem jungen Lanzmann, er poussierte ein bisschen mit seiner Schwester, jedenfalls gingen sie zusammen ins Kino, zum Tanzen, ganz manierlich.

      „Mutter, da ist nichts dabei!“

      Sicher war nichts dabei. Walter beherrschte die Kunst des Flirtens mit 21 so gut wie der jeweilig begehrteste jugendliche Liebhaber am Theater. Er hatte diese besondere Zurückhaltung im Umgang mit Mädchen. Verstohlene Blicke, ein Aufspannen der Augenbrauen, ein winziges Zucken in den Mundwinkeln, dann ein schneller Griff, um aus dem Mantel zu helfen, die Tür aufzureißen, gerade rechtzeitig, zurückzutreten, sich hinter das Mädchen zu stellen, so dass sie sein Rasierwasser riechen konnte und vielleicht sogar die Wärme seines Atems an ihrem Ohr spürte, weil die Bewegungen einander entgegengekommen waren, ihre und seine, ganz unvorhergesehen, man musste „Oh, Pardon“ sagen und beschämt schauen, dass man so nah an die Verehrte, Bewunderte herangetreten war, denn man wollte ihr doch nicht zu nahe treten, allenfalls ein bisschen näher kommen, wenn’s denn auch willkommen wäre, dessen versicherte er sich mit einem Fragen in den Augen und schließlich einem kessen Zwinkern, einer klitzekleinen Drehung des Kopfes. Walter hatte eine leise Stimme, ein bisschen rauchig, mit Timbre. Der Klang seiner Sätze war immer melodiös, immer freundlich. Er fand Formulierungen, die ein Nein oder gar ein Niemals klingen ließen wie ein Ja auf immer und ewig und überall. Man konnte keinen Streit mit ihm kriegen. Man konnte ihn nicht brüskieren, beleidigen, zurückweisen. Sein Lächeln, sein Zwinkern, der kleine Dreh seines Kopfes verwandelten alles ins Spielerische, nahmen dem Ernsten das Endgültige und ließen es verfließen ins Vage, Nebelhafte, Flüchtige.

      Für Walter hatte der Vater ursprünglich eine Karriere als Musiker vorgesehen gehabt. Vor langer Zeit. Weil keiner so gut Klavier spielte wie er. Alles konnte er spielen, Weihnachtslieder, Kirchenlieder, Arien aus den bekannten Opernaufführungen der Saison, Melodien aus den Lieblingsrevuen seiner Schwestern, die frechen Schlager der neuen Stars am Berliner Musikhimmel, „Veronika, der Lenz ist da“ oder „Mein kleiner grüner Kaktus“.

      „Walter, spiel doch mal“, bettelten seine Schwestern.

      „Was soll ich spielen?“, erwiderte er grinsend.

      Da begannen sie etwas zu summen, wippten mit den Fußspitzen dazu oder wiegten sich in den Hüften. Manchmal pfiffen sie auch und klatschten, aber nie lange, denn er wusste im Handumdrehen, was sie meinten und nahm die Melodienfetzen auf, verlegte sie in die Mitte des Klaviers, so dass jeder mühelos einstimmte. Aber Noten lesen konnte er nicht. Brauchte er doch nicht, wozu auch? Und das hatte den Vater sehr geschmerzt. Dass die vielleicht stärkste musikalische Begabung unter seinen Kindern mit so viel Leichtsinn und einem solchen Mangel an Fleiß und Ehrgeiz verbunden war. Und Sturheit. Es war Walters Art, sich jedem Einwand zu entziehen, indem er sein charmantes Lächeln aufsetzte, mit dem Kopf nickte und sich dann einfach verzog, einfach verschwand, dem Zugriff entwand wie ein glitschiger Fisch, ein weicher Körper ohne Anhalt und Profil, was Paul zum Kochen gebracht hatte.

      Wenn Hans nicht gewesen wäre, der helle heitere Bub, der jüngste von Pauls Söhnen! Auch er war durchaus musikalisch, konnte schön und richtig singen, schon als Fünfjähriger spielte er Schumanns wilden Reiter flinkfingrig vom Blatt, ohne auch nur einmal mit den Augen nach unten zu spickeln.

      Eines Tages erschien er beim Vater und sagte, er wolle eine eigene Geige haben, eine, die ihm gehöre, nur ihm. Paul ging auf diese Bitte ein, im Hinterkopf dachte er, Kinderwünsche sind ja doch so flüchtig wie ein lauer Sommerwind. Spätestens in vier Wochen hängt er das Instrument wieder zurück an meine Wand. Es dauerte dann doch länger, bis sein jüngster Sohn ihm die Geige wieder zurückbrachte. Als Paul sie genau ansah,

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