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Lipstick Traces. Greil Marcus
Читать онлайн.Название Lipstick Traces
Год выпуска 0
isbn 9783955756208
Автор произведения Greil Marcus
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Zweifellos spielte McLaren ein Jahr später den Sex Pistols Dolls-Platten vor, so wie Sam Phillips zwei Jahrzehnte zuvor seinen neuen Rockabilly-Sängern alte Blues-Platten vorgespielt hatte. Ein von McLaren bemaltes und bei den letzten Gigs der Dolls aufgehängtes Transparent hielt die tote Zeit fest, der sie nie entkommen waren: »WHAT ARE THE POLITICS OF BOREDOM?« Was ist die Politik der Langeweile?
ES WAR
ein situationistischer Slogan zweiten Grades. »Langeweile ist immer konterrevolutionär«, hatten die Situationisten gern behauptet. McLarens Fragezeichen war seine Art zu fragen, wie viel heimliche Macht in den Slogans steckte, denen er so große Bedeutung beimaß; um die Antwort zu finden, musste man die Slogans benutzen. »Langeweile ist immer konterrevolutionär« – dieser Satz war typisch für den Stil der Situationisten, für ihren Ton, ein Paradoxon aus toter Rhetorik und Umgangssprache, das kurz vor der Unlogik haltmachte, eine sich noch während man sie hörte in eine Frage verwandelnde Aussage: Was heißt das?
Man weiß es bereits, die Situationisten hatten die Antwort gegeben: Uns fehlt lediglich das Bewusstsein dessen, was wir wissen. Unser Projekt ist nichts weiter als eine verführerische, subversive Neuformulierung des Offensichtlichen: »Unsere Vorstellungen sind in allen Köpfen.« Unsere Vorstellungen davon, wie die Welt funktioniert, warum sie verändert werden muss, sind in allen Köpfen, und zwar als Gefühle, die in Ideen zu übersetzen niemand bereit ist, daher übernehmen wir die Übersetzung. Mehr müssen wir nicht tun, um die Welt zu verändern.
Für den Situationisten war Langeweile ein höchst modernes Phänomen, eine moderne Form von Kontrolle. Während der Feudalzeit und während des ersten Jahrhunderts der industriellen Revolution führten stumpfsinnige Plackerei und Entbehrung zu abstumpfender Erschöpfung und schrecklichem Elend, nichts Rätselhaftes, nur eine gottgegebene Tatsache: »Mit Adams Fall haben wir alle gesündigt«, und was die betraf, die weder Erschöpfung noch Elend kannten, so war es für ein Kamel leichter, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in den Himmel zu kommen. Nach Ansicht der Situationisten produzierten Modernität, verringerte Arbeitszeit und relativer Überfluss, Stadtplanung und der Wohlfahrtsstaat nicht Glück, sondern Depression und Langeweile. Da Gott fehlte, empfanden die Menschen ihren Zustand nicht als gottgegeben, sondern nur als schicksalhaftes Ereignis bar jeder Bedeutung, das jeden Mann und jede Frau von allen anderen trennte, wodurch alle Menschen wieder auf sich selbst zurückgeworfen wurden. Ich bin nicht glücklich – was stimmt mit mir nicht?
Fatalismus ist Hinnahme; »Que sera, sera« ist immer konterrevolutionär. Doch wie die Situationisten die moderne Welt verstanden, war Langeweile weniger eine Frage der Arbeit als der Freizeit. Als sie sich in den fünfziger Jahren aufmachten, schien die Arbeit ihre Kontrolle über das Leben einzubüßen; »Automatisierung« und »Kybernetik« waren schöne neue Wörter. Die Freizeit gewann an Bedeutung, und um an der Macht zu bleiben, mussten die Herrschenden, ob kapitalistische Direktoren im Westen oder kommunistische Bürokraten im Osten, dafür sorgen, dass die Freizeit so langweilig war wie die neuen Arbeitsformen; sogar langweiliger, wenn Freizeit die Arbeit als Zentrum des Alltagslebens ersetzen sollte, tausendmal langweiliger. Was könnte mit größerer Gewissheit einen isolierten, hoffnungslosen Fatalismus erzeugen als das Gefühl, ausgerechnet bei einer Sache abgestumpft zu sein, bei der man Spaß haben sollte?
Die acht Frauen und Männer, die sich am 27. Juli 1957 in der italienischen Stadt Cosio d’Arroscia trafen, um die Situationistische Internationale zu gründen, gelobten, einer Zukunft den Kampf anzusagen, die ihrer Meinung nach kurz davor stand, sowohl materielle Not als auch individuelle Autonomie abzuschaffen. Die moderne Technologie malte das Schreckgespenst einer Welt an die Wand, in der »Arbeit« – als Angestellter, Lohnabhängiger, jede Tätigkeit, die man tat, weil jemand anderes es sagte – bald nichts weiter sein könnte als ein Grimmsches Märchen. In einer neuen Welt unbegrenzter Freizeit könnte sich jeder einzelne ein Leben maßschneidern, so wie in der alten Welt ein paar privilegierte Künstler ihre Vorstellungen von Leben umgesetzt hatten. Es war ein alter Traum, der Traum des jungen Karl Marx – jeder sein eigener Künstler! –, aber diejenigen, denen die Gegenwart gehörte, sahen die Zukunft viel deutlicher als sämtliche drögen linken Sekten, die Marxens Erbe für sich beanspruchten. Die Herrschenden veränderten das gesellschaftliche Leben nicht nur, um die Kontrolle zu behalten, sondern um sie zu verstärken; die moderne Technik war ein zweischneidiges Schwert, ein Mittel, um das unbeackerte Feld des Überflusses und der Freizeit zu beackern, das die Revolutionäre seit fünfhundert Jahren fasziniert hatte. Daher Langeweile. Elend führte zu Groll, der früher oder später sein berechtigtes Ziel fand, nämlich die Herrschenden. Langeweile war etwas Nebelhaftes, Verwirrung und schließlich die äußerste Form von Kontrolle, Selbstkontrolle, perfektionierter Entfremdung: ein schlechtes Gewissen.
In der modernen Gesellschaft trat an die Stelle der Freizeit (Was möchte ich heute tun?) die Unterhaltung (Was wird mir heute geboten?). Der potentielle Fakt aller möglichen Freiheiten wurde durch eine Fiktion falscher Freiheiten ersetzt: Ich habe genug Zeit und Geld, um mir anzusehen, was es zu sehen gibt, mir anzusehen, was andere tun. Weil diese Freiheit falsch war, war sie unbefriedigend, sie war langweilig. Weil sie langweilig war, konnte dann jeder Unzufriedene über seine Unfähigkeit nachgrübeln, mit einer erfolgreichen Show etwas anzufangen. Die Show ist gut, aber ich fühle mich leer; mein Gott, was stimmt mit mir nicht? Freizeitkultur schuf Langeweile … produzierte sie, verkaufte sie, strich die Profite ein und investierte sie wieder. Die Leute würden also die Welt verändern, verkündete die erste Ausgabe der internationale situationniste im Juni 1958, »UM SICH NICHT ZU LANGWEILEN!… Langeweile ist die dem alt gewordenen Surrealismus, den wütenden und wenig informierten jungen Männern und dieser Rebellion der behaglich lebenden Jugendlichen gemeinsame Wirklichkeit, die zwar ohne Perspektive ist, aber weit davon entfernt, ohne Grund zu sein. Die Situationisten werden das Urteil vollstrecken, das die heutige Freizeit gegen sich selbst fällt.«
Die Situationisten hielten Langeweile für eine gesellschaftliche Krankheit; unter Soziopathen suchten sie nach deren Negation. Auf den Seiten ihrer Zeitschrift hat es manchmal den Anschein, als seien geisteskranke Kriminelle und Randalierer, die keine Manifeste veröffentlichen, die einzigen von den Autoren akzeptierten Verbündeten. Die Situationisten wollten eine Haltung definieren, keine Ideologie, da sie alle Ideologien als Entfremdung betrachteten, als Transformationen von Subjektivität in Objektivität, von Verlangen in eine Macht, die das Individuum zur Machtlosigkeit verdammte: »Es gibt gar keinen Situationismus«, verkündeten sie jahrelang. Die Welt sei eine aus Entfremdungen und Ideologien von Hierarchien und Bürokratien aufgebaute Struktur; jede für sich war für sie eine Version jeder anderen. Als ein Verrückter ein berühmtes Gemälde zerstörte, feierten sie das daher als symbolischen Aufstand gegen eine bürokratisch verwaltete Entfremdung, aufgrund deren die Ideologie des Meisterwerkes jeden auf ein Nichts reduzierte, der es betrachtete. Ebenso war für sie der Ordner, der bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg für deren friedlichen Verlauf zu sorgen versuchte, ein bürokratischer Ideologe, der einen Bruch zwischen Verlangen und Verhalten erzwang – und genauso ein Gegner wie General William Westmoreland oder auch Ho Chi Minh. Gemälde und Krieg waren erfolgreiche Inszenierungen; ob Museumsbesuch oder Demonstration, beide Freizeitbeschäftigungen waren Konsum von Repression. Das Meisterwerk überzeugte dich, dass Wahrheit und Schönheit ein Geschenk Gottes an jemand anderen war, der Protest gegen den Vietnamkrieg machte dir klar, dass im Leben anderer Menschen die Revolution ein Faktum war. Keins von beiden würde je auf dich zutreffen, daher nahmst du beim Verlassen beider Veranstaltungen weniger mit, als du mitgebracht hattest. Deshalb, so erklärten die Situationisten