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von Situationen sein, oder sie wird nichts sein«? Oder auf die 1964 von den Situationisten hinterlassene Prahlerei:

      Während die zeitgenössische Unfähigkeit sich in diesen Jahren am verspäteten Projekt weidet, »ins XX. Jahrhundert einzutreten«, muss man unseres Erachtens so bald wie möglich diesem Leerlauf ein Ende setzen, der das Jahrhundert beherrscht hat – so wie übrigens bei derselben Gelegenheit auch das christliche Zeitalter. Hier wie anderswo handelt es sich darum, das Maß zu überschreiten. Unser Unternehmen ist das Beste, was bisher gemacht wurde, um das XX. Jahrhundert zu verlassen.

      Nun sind wir bei etwas ganz anderem als einem Popsong angelangt … aber ein Popsong war schließlich auch etwas ganz anderes als »I am an antichrist«. Wir sind bereits an einem Punkt, wo wir beinahe nichts Wissenswertes erfahren werden, wenn wir den Rock ’n’ Roll befragen, obwohl es sich hierbei letzten Endes um eine Rock ’n’ Roll-Story handelt. Echte Rätsel lassen sich nicht lösen, aber sie lassen sich in bessere Rätsel verwandeln.

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       DAS LETZTE KONZERT DER SEX PISTOLS

      Seine Zähne waren nadelspitz geschliffen. Das hörte man, wenn Johnny Rotten seine Rs rollte; als der Kriegsdienstverweigerer Richard Huelsenbeck 1918 einem höflichen Berliner Publikum, das sich eingefunden hatte, um einen Vortrag über eine neue Kunstrichtung zu hören, erzählte: »Wir waren für den Krieg, und der Dadaismus ist heute noch für Krieg. Die Dinge müssen sich stoßen: es geht noch lange nicht grausam genug zu«; als 1649 der Ranter Abiezer Coppe seine Feurige Fliegende Rolle entfaltete (»So spricht der HERR, Ich sage Euch, ich werde umstürzen alles, was da besteht«); als 1961 die Situationistische Internationale eine Prophezeiung veröffentlichte, eine »Bekanntmachung an die Ruinenbauer: auf die Urbanisten werden die letzten Höhlenbewohner von Wellblechbaracken und Elendsquartieren folgen. Sie werden bauen können. Die Privilegierten der Schlafstädte werden nur zerstören können. Von einem solchen Zusammentreffen ist viel zu erwarten: es definiert die Revolution.«

      Das hörte man, als Johnny Rotten seine Rs rollte; das hätte man jedenfalls hören können.

       1975 VERWANDELTE

      sich ein Teenager, der sich später Johnny Rotten nannte, in ein lebendes Plakat und stolzierte die Londoner King’s Road hinunter bis nach World’s End, dem Ende der Straße; auf sein mit einem Pink-Floyd-Logo bedrucktes T-Shirt hatte er »I HATE« gekritzelt. Die Reste seiner gerupften Haare hatte er grün gefärbt, und während er sich durch die Touristenmassen schob, spuckte er Hippies an, die ihn zu ignorieren versuchten. Eines Tages machte man einen Geschäftsmann auf ihn aufmerksam, der gerade eine Band zusammenstellte. Der Drummer erinnerte sich an das Vorsingen dieses Burschen, das sich vor einer Jukebox abspielte, wobei der Junge so tat, als sänge er den Text zu Alice Coopers »Eighteen« mit: »Wir dachten, er hat das, was wir wollen. Leicht irre, ein front man. Danach suchten wir: nach einem front man, der genaue Vorstellungen davon hatte, was er tun wollte, und die hatte er ohne Frage. Und wir wussten sofort Bescheid. Auch wenn er nicht singen konnte. Das interessierte uns nicht besonders, weil wir damals gerade erst lernten, auf unseren Instrumenten zu spielen.«

      Möglich, dass die Sex Pistols nach den Plänen ihres selbsternannten Impresarios Malcolm McLaren, des Besitzers einer Boutique an der King’s Road, nie mehr sein sollten als ein kurzer Erfolg, ein billiges Vehikel zum schnellen Geldverdienen, gut für ein paar Lacher, für einen Touch des alten épater la bourgeoisie. Er hatte sie aus seinem Laden rekrutiert, ihnen einen Übungsraum beschafft, ihnen einen lachhaft anstößigen Namen gegeben, ihnen von der Hohlheit der Popmusik sowie den Möglichkeiten von Hässlichkeit und Konfrontation gepredigt, ihnen erzählt, sie hätten eine ebenso große Chance wie jeder andere auch, Aufsehen zu erregen, und es sei ihr gutes Recht. Falls alles andere schiefginge, könnten sie immer noch ein lebendes Schild für seinen Laden sein, der ein neues Ladenschild immer gebrauchen konnte: Bevor er sich 1977 für »Seditionaries« entschied, nannte Malcolm McLaren sein Geschäft »Let It Rock«, als er 1971 Teddy-Boy-Klamotten und alte Singles verkaufte; »Too Fast to Live Too Young to Die« 1973, als er Rockerklamotten und diverses Zubehör für Jugendgangs im Angebot hatte, »Sex« war 1974 angesagt, als Ketten, Sexpräparate sowie »God Save Myra Hindley«-T-Shirts verkauft wurden, letztere zum Gedenken an die Frau, die zusammen mit Ian Brady 1965 die Moormorde begangen hatte – Morde an Kindern, die Hindley und Brady als künstlerisches Statement auf Band festgehalten hatten. Gut möglich, dass die Sex Pistols in den Plänen ihres führenden Theoretikers und Propagandisten, des Kunststudenten der sechziger Jahre und ehemaligen sowie Möchtegern-Anarchisten und Provokateurs Malcolm McLaren, dazu bestimmt waren, das Land in Staunen zu versetzen, jene Intensität zu neuem Leben zu erwecken, die McLaren zuerst bei Jerry Lee Lewis’ Song »Great Balls of Fire« erlebt hatte (»So etwas hatte ich noch nie gesehen«, sagte er einmal, als er berichtete, wie ein Mitschüler diesen Song bei einem Talentwettbewerb seines Gymnasiums vorgetragen hatte. »Ich dachte, ihm fiele jeden Moment der Kopf ab«), und schließlich Musik und Politik zu vereinen, um die Welt zu verändern. Der von der französischen Mai-Revolte 1968 begeisterte McLaren hatte in London Solidaritätsdemonstrationen mitorganisiert und später T-Shirts mit aufgedruckten Mai-68-Slogans verkauft, auch wenn »ICH HALTE MEINE SEHNSÜCHTE FÜR REALITÄT, WEIL ICH AN DIE REALITÄT MEINER SEHNSÜCHTE GLAUBE«, der Wahlspruch einer winzigen Studentenclique, der Enragés, die den Aufstand begannen, in dem Laden lediglich verklemmte Geschäftsleute ermutigen sollte, McLarens Gummianzüge zu kaufen. McLaren verkaufte alles; Ende 1978, als der ehemalige Sex Pistols-Bassist Sid Vicious wegen Mordes an seiner Freundin Nancy Spungen verhaftet worden war, warf McLaren Sid Vicious-T-Shirts mit der Aufschrift »I’M ALIVE – SHE’S DEAD – I’M YOURS« auf den Markt (angeblich, um Geld für Vicious’ Verteidigung aufzutreiben). Doch kurz zuvor war er noch mit Exemplaren von Christopher Grays Leaving the 20th Century herumgelaufen, der ersten englischsprachigen Anthologie situationistischer Schriften, an deren Veröffentlichung er und Jamie Reid 1974 beteiligt gewesen waren.

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      Amerikanische Variante von Malcolm McLarens Laden

      Er versuchte, andere zum Lesen des Buches zu bewegen. »Es ist wenig mehr als eine moderne Interpretation marxistischer Essays über entfremdete Arbeit«, sagte Peter Urban, Manager der Dils, einer Punkband aus Los Angeles, die »auf Klassenkampf stand« (der Haupterfolg ihrer ersten Single, »I Hate the Rich«, bestand darin, dass die rivalisierende Gruppe Vom ein »I Hate the Dils« betiteltes Stück herausbrachte). »Damit hat es auch zu tun«, meinte McLaren, »aber es ist sehr, sehr intensiv. Das Gute daran waren die vielen Parolen, die man übernehmen konnte, ohne irgendeiner Bewegung anzugehören. Einer Bewegung anzugehören erstickt oft kreatives Denken sowie, von der Warte eines Jugendlichen aus gesehen, die Fähigkeit, sich selbst auszudrücken … Das Größte an dem Buch ist, dass es dir das erlaubt. Es enthält eine gewisse erregende Aggression und Arroganz …« Ein alter Hut, sagte Urban und schenkte McLarens interessanten Folgerungen ebenso wenig Beachtung wie einem Sticker auf dem Buchumschlag, den ein Zitat aus einer Rezension John Bergers zierte: »… eine der hellsichtigsten und ehrlichsten politischen Aussagen der sechziger Jahre«. »Verlorene Propheten« war Bergers Besprechung überschrieben; wäre der Rest auch noch irgendwie auf den Sticker gequetscht worden, hätte er das Gespräch noch weiter auf Abwege oder mehr auf den Punkt bringen können.

      Das Gespräch erschien 1978 in der Mai-Ausgabe von Slash, einem Punk-Magazin aus L.A. Die Nummer, besagte ein Hinweis auf der Seite mit dem Inhaltsverzeichnis, war »der Handvoll enragés (französisch für Irre, Fanatiker oder Wahnsinnige) gewidmet, die vor zehn Jahren versuchten, das Leben zu verändern«. Zu der Widmung gehörte die Illustration »une jeunesse que l’avenir inquiète trop souvent« (eine zu oft von der Zukunft beunruhigte Jugend), ein ehemals berühmtes Poster des 68er Kunststudentenkollektivs Atelier populaire; es zeigte eine junge Frau, den Kopf mit Verbandmull umwickelt und die Lippen von einer Sicherheitsnadel durchbohrt. Zehn Jahre später, den

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