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Briefe

      Ein Brief, den der Kompaniechef, Anton Stehm, an die verzweifelten Eltern ihres jüngsten Sohnes Franz schrieb, lautet wie folgt:

      Im Felde, 19.11.1941

      Geehrter Herr Wieszt!

      Ich habe die unangenehme Pflicht Ihnen mitzuteilen, dass ihr Sohn, SS-Schütze Franz Wieszt seit den Kampfhandlungen des 16.11.1941 in den karelischen Wäldern ostwärts Kristinki vermisst wird und bis jetzt noch nicht zur Einheit gestoßen ist. Wenn ich auch die Überzeugung habe, dass er vielleicht doch noch sich irgendwo einfindet, muss doch mit seinem Tode gerechnet werden. Bedingt durch das nächtliche Abwehrgefecht und durch die sehr schwierigen Geländeverhältnisse ist es uns nicht möglich gewesen, bei den Kompanieangehörigen irgendwelche Aufklärungen zu erhalten. Sollten sich aus den weiteren Nachforschungen irgendwelche Anhaltspunkte ergeben, so werde ich Sie sofort benachrichtigen. Ihr Sohn hat in der kurzen Zeit, die er erst unserer Einheit angehört, bereits die Achtung seiner Kameraden erworben. Er zeigte sich bei den Angriffen der letzten Tage als tapferer Deutscher.

      Heil Hitler Ihr Stehm

      SS-Gruppenführer und Kompaniechef

      Dieser Herr hätte zutreffender schreiben sollen, dass er sich bei den Angriffen der letzten Tage als „dummer Deutscher“ gezeigt hatte. Ist es nicht so gewesen, dass sich dieser verführte Junge vor seinen reichsdeutschen Kameraden hervortun wollte und vorwärtsstürmte, während die sich bedeckt hielten? Richtig jedenfalls ist, dass die Soldaten aus den deutschen Minderheiten der eroberten Länder von ihren „echten deutschen“ Kameraden als „Beutegermanen“ verspottet wurden.

      Viel haben wir als Kinder über dieses Kapitel aus der Geschichte Perbáls in der Familie oder von Verwandten, aber auch in späteren Gesprächen mit Bekannten nicht erfahren. Schon als kleine Kinder hörten wir, dass unsere Mutter den Begriff „Nazi“, sie sagte „Nazl“, als Schimpfwort benutzte. Lange Zeit verstanden wir Kinder nicht, was damit gemeint war. Als „die Amerikaner“ den Dorfbewohnern von Berghofen, wohin wir vertrieben worden waren, einen Film über die Befreiung der Konzentrationslager mit den bekannten fürchterlichen Bildern zeigten, verstanden wir Kinder von sechs und sieben Jahren nicht, dass das etwas mit den Nazis zu tun hatte. Wir mussten erst in die Mittelschule kommen, bis wir allmählich erfuhren, was alles passiert war und warum wir nicht mehr in Perbál in Ungarn leben konnten, sondern in Nordhessen, wo die Leute ganz anders sprachen als wir und wo man uns „Zigeunern“ gar nicht wohlgesonnen war.

      Die Deutschen in Perbál sind seit der Ankunft unserer Vorfahren in den Neunzigerjahren des siebzehnten Jahrhunderts in Ungarn loyale ungarische Staatsbürger gewesen. Als überwiegend katholische Menschen lebten sie in einer katholischen Umgebung kümmerten sich kaum um Politik und standen nicht in Opposition zur ungarischen Staatsmacht. Solange Ungarn zur Habsburger Monarchie gehörte, genossen die deutschen Siedlungen sogar gewisse Privilegien, die sie über vergleichbare Untertanen emporhoben. Nach der Revolution von 1848 änderte sich das. Trotz der Niederschlagung des revolutionären Aufstandes im Frühjahr 1849 wurde Ungarn nach der Niederlage der Habsburger im Krieg gegen Preußen 1866/67 als eigenständiger Staat im Verband des Habsburgerreiches anerkannt. Der Kaiser von Österreich wurde König von Ungarn. Die „k.und k.-Monarchie“ war entstanden, und die ungarischen Regierungen, obgleich gegenüber Wien im Großen und Ganzen loyal, versuchten beharrlich, ihre Eigenständigkeit zu vergrößern und die Abhängigkeit von Österreich zu vermindern. Ein verstärkter ungarischer Nationalismus kam in den folgenden Jahrzehnten auf. Er bestimmte fortan die Politik des Landes, das aus einem Nationalitätenstaat in einen Nationalstaat umgemodelt werden sollte. Im Zuge dieser Bestrebungen wurde die „Magyarisierung“ der nichtungarischen Minderheiten energisch betrieben. In den vorwiegend von Deutschen bewohnten Dörfern westlich von Budapest zeigte diese Politik zunächst nicht die erhoffte Wirkung. Wohl wurde seit dem Ende des Ersten Weltkrieges die Unterrichtssprache in den Schulen Ungarisch, aber außerhalb der Schule sprach man den deutschen Heimatdialekt. Nur wenn man „in die Stadt“, d. h. nach Budapest, fuhr, wurde Ungarisch gesprochen, wenn man das konnte. Obgleich das nicht unbedingt notwendig war, denn die deutsche und jüdische Oberschicht dort sprach Deutsch. Viele der älteren Leute beherrschten die schwierige ungarische Sprache auch nicht annähernd.

      In einem gewissen Sinne bildeten sich die Perbáler und die Bewohner der anderen deutschen Dörfer in Ungarn etwas darauf ein, Deutsche in Ungarn zu sein. Aber blickten zur nationalistischen slowakischen Minderheit herab, die „Schluwakke“, wie es in unserem Dialekt heißt. Gegen „Zigeuner und Juden“ gab es eine traditionelle Abneigung. In dieser Hinsicht unterschieden sich die Deutschen in Ungarn nicht von den Ungarn selbst. Juden wohnten in den ungarndeutschen Dörfern nur selten. In Perbál war es nur eine Familie. Ich erinnere mich an den pejorativ gebrauchten Ausdruck „Gschiejud“ (Geschirrjude = Lumpensammler). Unser Vater sprach davon, dass sich verschuldete Bauern „beim Juden“ Geld geborgt hatten, und dass er ihnen ihr Land wegnahm, wenn sie den Kredit nicht zurückzahlen konnten.

      Für die Interessen der deutschen Minderheit auf kultureller und politischer Ebene setzte sich der nach dem Ersten Weltkrieg gegründete „Ungarnländische Volksbildungsverein“ (UDV) ein. Von ihm spaltete sich in den Dreißigerjahren eine Minderheit ab und gründete den „Volksbund der Deutschen in Ungarn“ (VDU). Während der erste eine integrative Politik betrieb und für die Ungarndeutschen einen respektierten Status als Deutsche in Ungarn anstrebte, eine Art kultureller Autonomie, setze der VDU sich bewusst für eine desintegrative Entwicklung ein. Er wurde als ungarische Variante des „Volksbundes der Deutschen im Ausland“ von den Nazis gefördert.

      Nicht viele Leute in Perbál traten dem Volksbund bei. Meine in Karelien erschossenen Onkel gehörten wahrscheinlich zu seiner Jugendorganisation „Deutsche Jugend“ (DJ). Unser Vater war sogar der Kassierer der Perbáler Ortsgruppe, wie ich erst spät erfuhr. Dass er kein Nazi war, weiß ich mit Bestimmtheit. Für seinen Vater, Lorenz Wiest, liegt mir ein Schreiben des „Hessischen Ministers für die politische Befreiung, Der öffentlich Kläger bei der Spruchkammer Frankenberg/Eder“ vor. Ihm wird darin am 11. Juni 1947 mitgeteilt, dass er aufgrund seines Meldebogens „von dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 nicht betroffen“ ist.

      Unsere Großeltern gehörten dem Volksbund nicht an, weder die väterlicher- noch die mütterlicherseits. Unser Kopp-Großvater war aber fälschlich angeschuldigt worden. Seine angebliche „Mitgliedschaft im Volksbund“ sollte ihn sehr teuer zu stehen kommen. Beinahe hätte ihn diese bösartige Denunziation das Leben gekostet. Wie immer, wenn neue Herren ein Land beherrschen, blühte auch in Perbál die Denunziation. Wer es letztlich war, der meinen Großvater als „Volksbündler“ angeschwärzt hatte, ist heute unerheblich. Dass er kein „Nazi“ war, steht fest. Niemals habe ich von ihm in der Zeit, in der ich ihn mit wachem Bewusstsein erlebt habe, irgendwelche Äußerungen in dieser Hinsicht gehört. Ich rede in diesem Zusammenhang von meinem Großvater mütterlicherseits, der für uns Kinder der „eigentliche“ Großvater war. Seine jüngste

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