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waren fast alle noch in der Kneipe geblieben, und Bremminger dachte mit Schrecken an die Rechnung, die er bekommen würde. Natürlich war er der Spielverderber gewesen, als er schon so früh gegangen war. Aber das war ihm gleichgültig gewesen; denn seit 19 Uhr hatte ihn überhaupt nur eines beschäftigt: Es waren eben nicht alle Kollegen anwesend. Einer fehlte.

      Er selber hatte ihn allerdings auch nicht eingeladen. Aus irgendeinem Grund hatte er es nicht gewagt. Vielleicht hatte er Angst gehabt vor einer endgültigen Absage. Aber schließlich hatte ja auch der Kollege Hebemann den ganzen Abend organisiert und der hatte angeblich allen Bescheid gesagt. Allen, das hatte Hebemann auf seine mehrfache Nachfrage immer wieder bestätigt. Natürlich, ich habe alle eingeladen. Auch die ehemaligen? Sicher, auch die ehemaligen. Auf Hebemann konnte man sich verlassen, und zweifelsohne hatte der auch genau gewusst, welchen der ehemaligen Kollegen er vor allem gemeint hatte.

      Wenn der Berg nicht zum Propheten kommen will, dachte Bremminger nun, dann muss der Prophet eben zum Berg gehen. Noch vor ein paar Stunden hatte er noch nicht so gedacht, sondern sich nur geärgert; aber nach etlichen Gläsern Bier war sein Entschluss gefasst gewesen.

      Unschlüssig sah er sich um. Gehen war leicht gesagt; zu Fuß war es noch fast eine halbe Stunde. Irgendwo in der Passage hatte er doch ein Hinweisschild auf einen Taxenstand gesehen. Aber dann hatte er es sich plötzlich schon wieder anders überlegt; zielstrebig ging er in den Regen auf dem Bahnhofsvorplatz. Zu Fuß hatte er schließlich noch eine halbe Stunde Zeit, sich die ganze Sache vielleicht doch noch einmal zu überlegen.

      Als er unter den Vordächern und Markisen der großen Kaufhäuser vor dem Regen Schutz suchte, regte er sich darüber auf, dass die Bahnhofstraße nach Geschäftsschluss so dich besiedelt war wie die Sahara. Am Neumarkt kam ihm der pompöse Eingang zur Stadtbahn völlig absurd vor, weil die grelle Beleuchtung erst recht darauf aufmerksam machte, dass hier nichts, aber auch gar nichts los war. Das Stadttheater am nördlichen Rand der Innenstadt hatte noch nie Gnade bei ihm gefunden. Mit Opern konnte er gar nichts anfangen. Erst als er die Grenzstraße in Schalke erreicht hatte, konnte er sich über nichts mehr aufregen.

      Nur über sich selber. Es war wohl besser, einfach zuzugeben, dass er ein mulmiges Gefühl hatte. Schließlich hatte er den Kerl seit mehr als drei Jahren nicht mehr gesehen, und wenn man ehrlich war, musste man außerdem zugeben, dass ihr letztes Zusammentreffen einen weiteren Kontakt eigentlich ausgeschlossen hatte.

      Nur wegen des nun noch heftiger einsetzenden Regens blieb Bremminger nicht stehen. Er überquerte die Ampel an der Kurt-Schumacher-Straße bei Rot und lief auf der Grenzstraße weiter. Die dritte Querstraße links, das würde er nie vergessen, war die Leipziger Straße.

      Über 30 Jahre war Bremminger bei der Polizei gewesen. Er hatte viele Kollegen erlebt, viele waren auch ganz gute Kumpel, aber die meisten waren vor allem eines gewesen: Beamte, die genau wussten, dass sie jeden Monat ihr Geld überwiesen bekamen, gleichgültig ob sie gute Polizisten oder faule Bürohengste waren. In den letzten 30 Jahren, so kam es ihm nun vor, hatte es nur diese einzige Ausnahme gegeben.

      Er selber hatte es bis zum Leiter des 1.K. gebracht und damit im Rahmen seiner Möglichkeiten sicherlich Karriere gemacht. Die jungen Leute hatten es heute viel schwieriger; die Ausbildung war verschult, Bücher waren wichtiger als die Praxis, und es gab vor allem zu viele, die Karriere machen wollten. Es stand zu befürchten, dass sie demnächst noch auf die Idee kamen, selber krumme Dinger zu drehen, nur damit sie die aufklären und sich profilieren konnten. Dass sie jetzt ausgerechnet den Hebemann zu seinem Nachfolger gemacht hatten, hatte auch ihn überrascht. Eigentlich hatte es ihn sogar geärgert. Hebemann war nämlich ein typischer Bürohengst. Für Bremminger hatte es bereits vor sechs Jahren nur eine Person gegeben, die er wirklich für geeignet hielt, sein Nachfolger zu werden. Diese Person hieß Richard Börner.

      Aber dann war diese Sache passiert, die er bis heute nicht verstehen konnte, für die er trotz aller Bemühungen auch nie eine plausible Erklärung hatte finden können: Börner hatte damals ohne ein Wort der Erklärung den Dienst quittiert. Es war tatsächlich genau so gewesen: Tage- oder sogar wochenlang hatte Börner weder mit ihm noch mit sonst einem Kollegen auch nur ein Wort gewechselt, und dann hatte er eines Morgens das Kündigungsschreiben auf dem Schreibtisch gehabt.

      Vielleicht sagt er mir ja heute Abend den Grund, dachte Bremminger und bog schnell in die Leipziger Straße ein.

      Und dann hielt er es für das Beste, seinerseits ohne Wenn und Aber von Beginn an mit der ganzen Wahrheit herauszurücken: Einen anderen Grund gab es gar nicht für seinen späten Besuch.

      Bremminger war ein ordentlicher Mensch. Wenn man sein Amt einem Nachfolger übergab, musste eben alles geklärt sein. Alles. Auch die unangenehmen Dinge.

      2

      Obschon es draußen schon lange dunkel geworden und das Licht in der Wohnung eingeschaltet war, konnte sich Börner nicht entschließen, die Rolläden vor den Fenstern herunterzulassen. Es störte ihn zwar, dass nun möglicherweise Leute von der gegenüberliegenden Häuserreihe in sein Zimmer sahen, aber das Gefühl, in einer von der Außenwelt abgeschlossenen Wohnung zu sitzen, war ihm unerträglich.

      Die Wohnung machte keinen sonderlich aufgeräumten Eindruck. Alle Türen standen offen, in allen Zimmern brannte Licht. In der Küche standen Berge von nicht abgewaschenem Geschirr, der Boden im Wohnzimmer war übersät mit Büchern, Notizblöcken und Zetteln. Auf dem Schreibtisch an der breiten Fensterfront konzentrierte sich dieses Chaos.

      Börner lag auf der Couch in der Ecke des Wohnzimmers. In der rechten Hand hielt er die Fernbedienung des Fernsehgerätes und schaltete von einem Programm zum anderen. Gerade hatte er einen amerikanischen Spielfilm gesehen, der ihn nicht interessiert hatte. Er machte einen hilflosen Eindruck, als er das Gerät ausschaltete und aufstand: Er wusste nicht, was er nun tun sollte; er fühlte sich müde, ohne jeden Antrieb. Die Unordnung in seiner Wohnung verstärkte dieses Gefühl noch.

      Eine ganze Zeit stand er vor dem Bücherregal, das fast die gesamte Wand des Wohnzimmers einnahm. Auf den Büchern lag eine dicke Staubschicht. Etwa in Augenhöhe lag über einer Reihe von Büchern ein Blatt Papier. Neugierig nahm er es aus dem Regal, und schon bevor er es genauer betrachtet hatte, war sein Interesse wieder erloschen

      Es war ein Papier mit Briefkopf: Kommissar Richard Börner, Leipziger Straße 54, 4650 Gelsenkirchen. Er zerriss das Papier in kleine Stücke. Noch vor dem Ende des Kommissarlehrgangs in Dortmund vor mittlerweile über sieben Jahren hatte er solche Briefbögen drucken lassen. Es war wirklich manchmal schwer, sich seine eigene Vergangenheit zu verzeihen! Die Karriere des Kommissars Richard Börner bei der Kripo in Gelsenkirchen hatte nicht einmal zwei Jahre gedauert.

      Er arbeitete immer noch in Dr.Klauseners Anwaltsbüro in Essen und hatte zu dieser Arbeit weniger Lust als je zuvor. Auch konnte er nach zehn Semestern Jura an der Uni in Bochum nur sagen, dass man Mühe haben musste, ein noch langweiligeres Fach zu finden. An den Tagen, die Dr.Klausener ihn in der Vorlesungszeit wegen des Studiums beurlaubte, besuchte er zumeist Vorlesungen und Seminare anderer Fachbereiche: Psychologie, Philosophie, Sprachen, das alles konnte man noch ertragen. Aber wozu eine Uni nun wirklich da war, das hatte er trotz seines kriminalistischen Spürsinns in fast fünf Jahren nicht herausbekommen.

      Demenstsprechend waren seine Studienleistungen. Das Staatsexamen lag in irgendwelchen unerreichbaren Fernen, und Dr.Klauseners gelegentliche Hinweise und Anmahnungen erreichten mit schöner Regelmäßigkeit das Gegenteil von dem, was sie wohl bezweckten: Börner hasste Klauseners väterliche Art, und schon mehrfach hatten dessen Belehrungen in den vergangenen Monaten dazu geführt, dass Börner, anstatt nach Bochum zu fahren, sich erst einmal richtig ausgeschlafen hatte. Er hatte sich längst mit dem Job eines kleinen Bürogehilfen in einer Anwaltskanzlei angefreundet. Und warum auch nicht? Geld verdiente er damit genug, und ob er nun Akten schleppte oder brilliante Plädoyers vorbereitete, das war doch völlig gleichgültig. So oder so war dieser ganze juristische Kram Zeitverschwendung, und er hatte sich einfach für die geringere Verschwendung seiner Zeit entschieden.

      Außerdem kam er nun auch mit den Kollegen ganz gut klar. Nach dem Fall Neubauer und seinen Eskapaden vor rund vier Jahren hatte er geglaubt, das Büro

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