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Lord Jim. Joseph Conrad
Читать онлайн.Название Lord Jim
Год выпуска 0
isbn 9783750247819
Автор произведения Joseph Conrad
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
So sah ich denn nach ein paar Minuten seinen riesenhaften Wanst sich eilig die Treppe herunterbewegen und auf den äußeren Stufen stehenbleiben. Er hatte, zum Zweck tiefen Nachdenkens, dicht neben mir haltgemacht. Seine dicken, blauroten Backen zitterten. Er nagte seinen Daumen und streifte mich nach einer Weile mit einem ärgerlichen Seitenblick. Die andern drei Burschen, die mit ihm gelandet waren, standen in einiger Entfernung zusammen und warteten. Da war ein blasser, gewöhnlicher kleiner Kerl mit einem Arm in der Schlinge und ein ellenlanger Bursche, trocken wie ein Span und dürr wie ein Besenstiel, mit hängendem grauem Schnurrbart, in einem blauen Flanellkittel; er blickte mit einer blöden Munterkeit um sich. Der dritte war ein hochgewachsener, breitschultriger junger Mann, mit den Händen in der Tasche, der den beiden andern, die sich ernsthaft zu unterhalten schienen, den Rücken kehrte. Er starrte auf die leere Esplanade. Ein wackeliger, staubbedeckter Mietswagen mit Glasfenstern hielt gerade gegenüber der Gruppe an, der Kutscher zog seinen rechten Fuß auf das linke Knie herauf und überließ sich einer kritischen Untersuchung seiner Zehen. Der junge Bursche stand wie angewurzelt, ohne nur den Kopf zu bewegen, da und starrte in die Sonne. Dies war meine erste Begegnung mit Jim. Er sah so unbekümmert und unnahbar aus, wie dies nur in der Jugend möglich ist. Frisch, reinlich, fest auf den Beinen, schien er ein so hoffnungsvoller Junge, wie nur einer unter der Sonne; und wie ich mir nun alles vergegenwärtigte, was ich von ihm wußte, empfand ich einen solchen Groll gegen ihn, als hätte ich ihn bei dem Versuch ertappt, mich durch falsche Behauptungen zu prellen. Er hatte kein Recht, so gesund auszusehn. Ich dachte bei mir – nun, wenn so einer sich so weit vergessen kann... und dabei hätte ich aus purem Zorn meinen Hut hinschmeißen und darauf tanzen mögen, wie ich es einmal den Kapitän einer italienischen Bark habe tun sehn, weil sein Tölpel von Maat in einer Reede voll von Schiffen mit den Vertäuankern nicht zurechtkam. Ich fragte mich, da ich ihn scheinbar so guter Dinge sah: ist er dumm? Ist er gefühllos? – Er schien im Begriff, sich eins zu pfeifen. Und ihr müßt wissen, daß mich das Betragen der beiden andern keinen Deut kümmerte. Ihre Persönlichkeiten entsprachen ungefähr der Geschichte, die im Umlauf war und die der Gegenstand einer amtlichen Untersuchung werden sollte. »Dieser verrückte alte Esel da oben nannte mich einen Hund«, sagte der Kapitän der Patna. Ich kann nicht sagen, ob er mich erkannte – ich glaube, ja; jedenfalls trafen sich unsere Blicke. Er glotzte – ich lächelte; Hund war das mildeste Epitheton, das ich durch das offene Fenster gehört hatte. »So?« sagte ich, aus einer sonderbaren Unfähigkeit, den Mund zu halten. Er nickte, nagte an seinem Daumen und murmelte einen leisen Fluch. Dann hob er den Kopf und sah mich mit trotziger, wilder Herausforderung an: »Bah! Der Stille Ozean ist groß, mein Freund. Ihr verdammten Engländer mögt machen, was ihr wollt; ich weiß, wo ein Mann wie ich an seinem Platz ist. Ich bin bekannt in Apia, in Honolulu, in...« Er hielt nachdenklich inne, während ich mir ohne Mühe die Leute ausmalen konnte, mit denen er an jenen Orten bekannt war. Ich will kein Hehl daraus machen, daß auch ich mit etlichen von der Sorte bekannt war. Es gibt Zeiten, wo man so tun muß, als ob einem das Leben in jeglicher Gesellschaft gleich angenehm wäre. Ich habe eine solche Zeit gekannt, und es fällt mir gar nicht ein, nachträglich über diese Zwangslage ein Gesicht zu ziehen, denn ein gut Teil dieser schlechten Gesellschaft war aus Mangel an moralischer – wie soll ich sagen? – an moralischer Haltung oder aus sonst einem triftigen Grund doppelt so belehrend und zwanzigmal lustiger als der gewöhnliche achtbare Geschäftsgauner, den ihr, ohne eigentliche Notwendigkeit, nur so aus Gewohnheit, Feigheit, Gutmütigkeit und hundert ähnlichen niedrigen und belanglosen Gründen, an euren Tisch bittet.
»Ihr Engländer seid alle Gauner«, fuhr mein patriotischer Flensburger oder Stettiner Australier fort. Ich entsinne mich wirklich nicht, welch ehrsamer kleiner Hafenplatz an der Ostsee es sich zur Unehre rechnen mußte, das Nest dieses seltenen Vogels gewesen zu sein. »Was habt ihr zu schreien? Ihr wollt mir was sagen? Ihr seid nicht besser als andre Leute, und der alte Schuft hat mir einen verfluchten Krach gemacht.« Sein massiger Körper zitterte auf den Beinen, die zwei Säulen schienen; zitterte von Kopf bis zu Fuß. »Das ist immer so die Art von euch Engländern, wegen jeder Kleinigkeit einen verfluchten Krach zu machen, – weil ich nicht in eurem verfluchten Land geboren bin. Mir das Patent nehmen. Nehmt's euch. Ich brauch' kein Patent. Ein Mann wie ich braucht euer verfluchtes Patent nicht. Ich spuck' drauf!« Er spuckte. »Ich will amerikanischer Bürger werden«, schrie er, vor Wut schäumend und schnaubend und mit den Füßen scharrend, als hätte er seine Knöchel von einer unsichtbaren und geheimnisvollen Umklammerung zu befreien, die ihn nicht vom Fleck lassen wollte. Er brachte sich in eine solche Hitze, daß sein kugelrunder Schädel buchstäblich rauchte. Nichts Geheimnisvolles hinderte mich, den Platz zu verlassen: Neugierde ist das deutlichste der Gefühle, und sie hielt mich dort fest, um die Wirkung der vollen Wahrheit auf den jungen Mann zu beobachten, der, mit den Händen in den Taschen und mit dem Rücken zum Bürgersteig, über die Rasenplätze der Esplanade weg zu dem gelben Portikus des Malabar-Hotels hinübersah – ganz wie ein Mann, der einen Spaziergang machen wird, sobald sein Freund fertig ist. So sah er aus, und es war schmählich. Ich wartete darauf, ihn überwältigt, niedergeschmettert, im Innersten getroffen, wie einen aufgespießten Käfer sich krümmend zu sehen – und fürchtete doch auch wiederum, ihn so zu sehen, wenn ihr versteht, was ich meine. Nichts Schrecklicheres, als einen Menschen zu sehen, der ertappt worden ist, nicht auf einem Verbrechen, sondern auf einer mehr als verbrecherischen Schwäche. Die gewöhnlichste Art von Stärke hält uns davon ab, vor dem Gesetz zu Verbrechern zu werden; aber vor der unbekannten, vielleicht nur vermuteten Schwäche – so wie man in einigen Teilen der Welt in jedem Gebüsch eine todbringende Schlange vermuten muß—, vor der Schwäche, die verborgen, bewacht oder unbewacht, durch Gebet niedergehalten oder mannhaft verachtet, unterdrückt oder vielleicht mehr als ein halbes Leben lang gar nicht erkannt sein mag – vor der ist keiner von uns sicher. Wir werden verleitet, Dinge zu tun, um derentwillen man uns Schimpfnamen anhängt, Dinge, um die wir gehenkt werden – und doch kann der Geist das alles überleben – die Verurteilung überleben, den Strick überleben, bei Gott! Aber es gibt Dinge – und sie sehen oft geringfügig genug aus –, durch die manche von uns völlig und von Grund auf vernichtet werden. Ich betrachtete mir den jungen Burschen dort. Ich mochte sein Aussehen; ich kannte sein Aussehen; er kam vom rechten Ort; er war einer von uns. Er war ein echter Abkömmling