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Lord Jim. Joseph Conrad
Читать онлайн.Название Lord Jim
Год выпуска 0
isbn 9783750247819
Автор произведения Joseph Conrad
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ich hatte während der ganzen Zeit mein Interesse durch die üblichen Zeichen der Höflichkeit kundgegeben, nun aber entschuldigte ich mich mit einer Miene des Bedauerns wegen Zeitmangels und verabschiedete mich in Eile, »übrigens«, rief er mir noch nach, »er kann der Gerichtsverhandlung nicht beiwohnen. Wird seine Aussage von Belang sein?«
»Nicht im mindesten«, gab ich ihm vom Gartenzaune aus zur Antwort.
Sechstes Kapitel
Das Gericht war offenbar derselben Ansicht. Die Verhandlung wurde nicht vertagt. Sie fand an dem festgesetzten Termin statt, damit dem Gesetz Genüge geschehe, und war, zweifellos um ihres menschlichen Interesses willen, gut besucht. Es herrschte keine Ungewißheit bezüglich der Tatsachen – bezüglich der einen wesentlichen Tatsache, meine ich. Wie die Patna zu der Havarie gekommen, war unmöglich festzustellen; und in dem ganzen Gerichtssaal war niemand, dem daran lag, es zu erfahren. Doch wie ich euch sagte, wer nur etwas mit der See zu tun hatte, war zugegen, und das ganze Küstengewerbe war vollzählig vertreten. Was die Leute hinführte, war, ob sie es wußten oder nicht, rein psychologische Neugier – die Erwartung, die menschlichen Leidenschaften in ihrer ganzen Gewalt und Abgründigkeit enthüllt zu sehen. Natürlich konnte nichts derart enthüllt werden. Das Verhör des einzigen Mannes, der imstande und willens war, sich ihm zu unterziehen, bewegte sich in nutzloser Weise um die eine wohlbekannte Tatsache, und das Fragenspiel, das darauf abzielte, gab nicht mehr Aufschluß, als wollte man mit dem Hammer auf einen eisernen Kasten klopfen, um zu erfahren, was darin ist. Ein amtliches Verhör konnte eben nicht anders sein. Es hatte nicht das grundlegende ›Warum‹, sondern das oberflächliche ›Wie‹ der Angelegenheit zum Gegenstand.
Der junge Bursche hätte Aufklärung geben können, doch obwohl es gerade das war, worauf die Zuhörer Wert legten, so führten ihn doch alle Fragen, die man ihm stellte, von der einzigen Wahrheit weg, die – mir zum Beispiel – wissenswert schien. Man kann von den bestallten Obrigkeiten nicht erwarten, daß sie nach dem Seelenzustand eines Menschen forschen – oder geht es etwa bloß um den Zustand seiner Leber? Ihre Aufgabe war, die Folgen zu ahnden; und, offen gesagt, irgendein Polizeirichter und zwei nautische Beisitzer taugen kaum zu sonst etwas. Ich will damit nicht sagen, daß diese Leute dumm waren. Der Polizeirichter war sehr geduldig. Einer der Beisitzer war ein Segelschiffskapitän mit einem rötlichen Bart und von gläubiger Gemütsart. Brierly war der andere. Der Große Brierly. Einige von euch müssen doch vom Großen Brierly gehört haben – dem Kapitän des Prachtschiffs von der Blue Star Line. Das ist der Mann.
Er schien nicht sehr erbaut von der Ehre, die ihm zuteil geworden war. Er hatte niemals in seinem Leben einen Fehler gemacht, nie einen Unfall gehabt, nie Pech, nie war ihm bei seinem stetigen Aufstieg etwas in die Quere gekommen, und er schien einer jener Glückspilze zu sein, die nichts von Unentschiedenheit, geschweige denn von Mißtrauen gegen das eigene Selbst wissen. Mit Zweiunddreißig hatte er eine der besten Kommandostellen in der östlichen Handelsflotte – und was die Hauptsache ist, er tat sich nicht wenig darauf zugute. Er bildete sich Gott weiß was darauf ein, und hätte man ihn, Hand aufs Herz, gefragt, dann hätte er wohl zugegeben, daß es seiner Meinung nach keinen zweiten solchen Kommandanten geben könne. Die Wahl war auf den rechten Mann gefallen. Die übrige Menschheit, die nicht den Stahldampfer Ossa von sechzehn Knoten Geschwindigkeit befehligte, war eigentlich sehr zu bedauern. Er hatte Menschen zur See das Leben gerettet, war Schiffen, die sich in Not befanden, zu Hilfe gekommen und hatte zum Dank für diese Dienste einen goldenen Chronometer von der Versicherungsgesellschaft und ein Marineglas mit passender Inschrift von irgendeiner fremden Regierung zum Geschenk erhalten. Er war sich seiner Verdienste und seiner Belohnungen voll bewußt. Ich konnte ihn recht gut leiden, obwohl ihn manche meiner Bekannten – milde, freundliche Leute sonst – in den Tod nicht ausstehen konnten. Ich habe nicht den leisesten Zweifel, daß er sich mir weitaus überlegen dünkte – ja, der Beherrscher beider Indien hätte sich in seiner Gegenwart klein fühlen müssen – doch ich brachte es nicht fertig, mich ernsthaft beleidigt zu fühlen. Er verachtete mich nicht wegen etwas, was ich tat oder was ich war – versteht ihr? Ich war ein Niemand – aus dem einfachen Grunde, weil ich nicht der bevorzugte Mann der Erde, Montague Brierly, Befehlshaber der Ossa, war und keinen gravierten goldenen Chronometer und kein silberbeschlagenes Marineglas mein eigen nannte, die meine seemännische Tüchtigkeit und meinen unbezähmbaren Mut beglaubigten; weil ich ferner nicht