Скачать книгу

Exkurs voraus.

      In den morgendlichen dicht gedrängten Waggons fragte er sich, ob die Berufstätigkeit die Mitfahrer erfüllen würde.

      Viele sehnen sich nach einer anderen Stelle. Und wie viele von den Fahrgästen, die genau diese Stelle innehaben, brennen darauf diese Stelle zu verlassen? Der eine ist scharf auf das, was der andere loswerden will – Verrückte Welt!

      Nachmittags fragte er sich häufig, ob sein U-Bahn-Gegenüber sich auf den Feierabend freue. Fährt er in einen erfüllten Abend oder füllt er die innere Leere mit der monotonen Vielfalt seines Fernsehers, ehe die Müdigkeit ihn in den Schlaf schickt? Schließt ihn jemand in den Arm oder nimmt der Zynismus des Lebens ihn täglich auf denselbigen?

      Philosophische Gedanken in ratternden Zügen.

      In der Zeit von Weihnachten bis Silvester 1985 las Kurt seine Aufzeichnungen durch.

      Täglich hatte er sich die vermeintliche Welt seiner Mitfahrer ausgemalt, ohne sie zu kennen und so fasste er an Silvester den Entschluss, seine Hypothesen im neuen Jahr auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen.

      Am ersten Arbeitstag im neuen Jahr kochte Kurt einen Espresso auf dem Gasherd, schaufelte langsam sein Müsli in sich rein und stand um halb neun am U-Bahnhof Lattenkamp.

      Zweifelnd hinterfragte er, ob er wirklich dieser in einer spontanen Silvester-Laune entstandenen Idee nachgehen solle. Kurt fürchtete sich zu blamieren, wenn er einen Mitfahrer anspräche. Auf der anderen Seite konnte er nichts verlieren: Zehn Minuten dauert eine Fahrt bis zur Station Stephansplatz; dann könnte er der Peinlichkeit entfliehen. Unklar war ihm, ob er eine konkrete Frage zum Alltag stellen oder ein philosophisches Thema ansprechen solle? Mit schwirrendem Schädel nahm Kurt auf einen freien Platz in der U-Bahn Platz, verfluchte seinen Vorsatz fürs neue Jahr und beobachtete den Mann, der ihm Zeitung lesend gegenüber saß.

      Und dann in dem Moment, als der Mann seine Zeitung umblättert und Kurt das Horoskop sah, rutschten die Worte aus ihm heraus: „Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche; aber angesichts dessen, dass heute der erste Werktag im Neuen Jahr ist und ich gerade das Horoskop in ihrer Zeitung sehe, gestatten Sie mir eine Frage: Wird dieses Jahr ein gutes oder ein schlechtes?“

      Er erschrak selber über seine Courage und sein Herz hämmerte kräftig gegen den Brustkorb.

      Der Mann senkte erst seine Zeitung, dann den Blick. Schließlich fixierte er über das Gestell seiner Lesebrille hinweg Kurt, schwieg einige Sekunden und sagte mit

      sonorer Stimme:

      „Was soll dieses Jahr anders sein als letztes? Wie in den Jahren zuvor fahre ich in der Bahn, lese wie eh und je die gleiche Tageszeitung. In dreißig Minuten sehe ich im Büro die bekannten Gesichter. Ich werde die gleichen Arbeiten wie in den Vorjahren erledigen und meine Vorgesetzten werden neue Ideen kreieren. Ihre Frage ist falsch formuliert: Es wird kein gutes oder schlechtes Jahr – nein, es wird wie immer.“

      Mit diesen Worten hob er die Tageszeitung und verschwand hinter dem Horoskop.

      Kurt staunte über seinen eigenen Mut und die nüchterne Analyse seines Gegenübers. Zufrieden klang diese nicht, aber auch nicht resigniert.

      So begann das Jahr für Kurt mit einer kurzen, realistischen Beschreibung aus dem Leben eines Büro-Märtyrer.

      Als er im Cafe „zeitlos“ ankam, fragte Charlotte, ob er gut ins Neue Jahr gekommen sei.

      Silvester war okay, meinte er; lediglich das Fest der Liebe mit allen neurotischen Familienmitgliedern hatte wie jedes Jahr groteske Züge gehabt.

      Charlotte erzählte, dass sich was Neues überlegt habe.

      Oh ha, dachte Kurt, noch eine mit Vorsätzen fürs Neue Jahr.

      Sie habe in einem Bericht gelesen, dass die New Yorker ganz scharf auf ein Gebäck namens Bagels seien. Man kann es mit Käse, Lachs, Schinken – eigentlich allem versehen. Charlotte behauptete, dass Croques und Baguettes bald überholt seien.

      Oh ha, dachte Kurt zum zweiten Mal in diesem Gespräch.

      Sie hatte sich bereits Rezepte besorgt und sich mir ihrem Haus- und Hofbäcker zum Probebacken verabredet.

      Auch wenn ihm die neue Idee befremdlich vorkam, schätzte Kurt Charlotte als Geschäftsfrau. Sie war eine der ersten, die ein Cafe im Univiertel eröffnet hatte, das verschiedenste Kaffeevarianten anbot. Eine weitere Erfindung von ihr war die „Kulturnacht“. Das waren Abende, an der sie ihr Kaffee für Literatur- und Musikveranstaltungen öffnete. Auch Kurt und seinen Kabarettfreunden hatte Charlotte das Cafe schon für Auftritte zur Verfügung gestellt.

      Letztendlich war sie eine gute Seele, die innovativ genug war, um in der schnelllebigen Studentengastronomie immer auf Höhe des Balls zu bleiben und nicht ins Abseits zu laufen.

      Lediglich in der Liebe war die Abseitsfahne regelmäßig oben. Männer überrannte sie mit ihrer dynamischen Aktivität in Handeln und Reden, so dass diese sich schnell den Zweikämpfen entzogen und sich auf dem Spielfeld L´amour auswechseln ließen. Nur eine männliche Beziehung hielt lang, die zu Sir Toby - ihrem Golden Retriever.

      Beflügelt durch seine morgendliche Erfahrung stellte Kurt auf dem Heimweg seinem Sitznachbarn in der U-Bahn die gleiche Frage wie auf der Hinfahrt. Doch statt einer differenzierten Antwort tönte ihm nur ein „Willst du mich verarschen? Lass mich in Ruh!“ entgegen.

      Zu dieser Zeit traf sich Kurt häufig abends mit seiner Kabarettgruppe „Die Beißer“ bei Thies, um am neuen Programm weiterzuarbeiten.

      In Thies kleinem Kapitänshaus am Oevelgönner Ufer, das er von seiner Großmutter geerbt hatte, lüfteten sie Bierflaschen, durchstöberten Zeitungen der letzten Wochen auf der Suche nach knackigen Schlagzeilen als Ansatzpunkt für ihr neues Programm.

      Sei es, ob sich die erste rot-grüne Koalition in der BRD auf Landesebene gebildet hatte - mit einem Ministerpräsidenten in konservativen Anzug und einem Turnschuh tragenden Umweltminister auf der anderen Seite oder ob Großbritannien aus der UNESCO austrat und sich auf diesem Weg von Erziehung, Wissenschaft und Kultur verabschiedete. Der erste Privatsender ging auf Sendung und leitete den kulturellen Niedergang des Fernsehabendlandes ein. In Österreich wurde Prädikatswein mit Frostschutzmittel gesundheitsgefährdend veredelt. Musikmagazinen wurden durchstöbert. Beim Blick der Charts überkam sie eisiges Frösteln: Ein Brite mit Brillentick, ein eunuchenhaft singendes, angeblich modern talkendes Duo und einige andere Pop-Sternchen waren die Topseller. Daniel behauptete, dass Österreichischer Wein wohl die einzige Möglichkeit wäre, diese Schallplatten-Kakophonie zu ertragen.

      Diese aktuellen Ereignisse boten genügend Fauxpas, politische Banalitäten und Plattitüden, um fortlaufend ihr Programm den real-existierenden politischen Verhältnissen anzupassen.

      Als Kurt voll mit diesen Erinnerungen sich dem Cafe „zeitlos“ näherte, sah er schon von Weitem Helenas blondes Haar in der Sonne leuchten.

      Kurt stoppte am Bürgersteig und lächelte Helena an: „Hallo, auf zur Elbe.“

      Mit einem „Wunderbar“ schwang sich Helena auf den Beifahrersitz.

      „Sie sehen gestresst aus.“

      „Die letzten zwei Tage hatten es sich in sich. Einer meiner Chefredakteure hat medial über die Strenge geschlagen und die Schläge bekomme ich gerade ab. Aber lassen Sie uns das Thema wechseln. Wie haben Sie die Tage seit unserem letzten Treffen verbracht?“

      Während Kurt den Wagen durch den Stadtverkehr in Richtung des Oevelgönner Hafen lenkte, erzählte Helena von Ausstellungen, die sie in Museen besucht hatte.

      Vom Hafen gingen sie flussabwärts. Ein warmer Südwestwind trug den mit schwerölgetränkten Geschmack des Hafens zu ihnen. Am Museumshafen blieben sie einige Minuten stehen, labten sich am Anblick der alten Holzsegelschiffe und ließen den Blick über die glitzernde Wasserfläche der Elbe bis zu den Containerterminal auf der anderen Uferseite streifen.

      „Was halten Sie davon, wenn wir ein wenig am Strand spazieren gehen und uns an der guten alten Strandperle in den

Скачать книгу