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alle Schande, die über sie und Sigrun kommen mußte, legte sich wie eine schwere Last auf sie.

      Gleich darauf trat das Hausmädchen ins Brauhaus herein. Sie brachte ein Brett mit dem Frühstückskaffee für die Hausfrau.

      Sie sah die Lampe mit schwelendem Docht nahe am Erlöschen auf dem Tisch stehen, das Brauhaus voller Rauch und beinahe finster. Sie rief, erhielt aber keine Antwort. Da begriff sie, daß etwas nicht in Ordnung sein mußte. Sie stellte das Kaffeebrett ab, strich ein Zündholz an und sah nun, daß Lotta zusammengesunken neben dem Bett auf der Erde saß und daß über der, die im Bette lag, ein Laken gebreitet war, wie wenn sie tot wäre. Sachte trat sie näher, hob einen Zipfel des Lakens auf und sah ein paar dick verschwollene Hände.

      Doch da erwachte Lotta zum Leben.

      »Nimm dich in acht, es sind die Pocken!«

      Das Mädchen ließ das Tuch fallen und wich ein paar Schritte zurück.

      Und nun war sie es, die die Nachricht verbreitere, die den Pfarrer und alle anderen von dem Geschehenen in Kenntnis setzte.

      Lotta Hedman, die unter dem Schutze der gefährlichen Krankheit stand, wurde kaum nach dem gefragt, was geschehen war.

      Der Küster wurde geholt, der ein entschlossener und kräftiger Mann war, und er beschloß und ordnete an, wie er es für richtig hielt.

      Der Ansteckungsgefahr wegen befahl er, Lotta Hedman müsse im Brauhaus bleiben, und niemand dürfe zu ihr. Und sie dürfe, wenn der Pfarrer sie rufen lassen sollte, dem Rufe auch nicht Folge leisten.

      Er war es auch, der mit Lotta zusammen die Tote in den Sarg legte; dann wurde sie in ein hastig aufgeworfenes Grab gesenkt.

      Nachforschungen wurden keine angestellt, kaum einige Fragen getan. Der ganze Pfarrhof war eine Zeitlang von der übrigen Umgegend abgesperrt. Daß die Pfarrerin sich für tot ausgeben lassen könnte, obgleich sie noch am Leben war, das war etwas zu Widersinniges, um es auch nur auszudenken.

      »Der Scherenschleifer, der in den letzten Wochen in der Umgegend herumgezogen ist, hat die Ansteckung aus Norwegen mitgebracht,« wurde gesagt. »Auch seine Frau ist krank, sie ist ihm im Fieberwahn davongelaufen.«

      Nun erinnerte man sich auch wieder an die Worte des Arztes. »Und die Krankheit hat schon lange in der Frau Pfarrer gesteckt,« hieß es.

      Der längste und qualvollste Tag, den Lotta Hedman je erlebt hatte, ging schließlich zu Ende, ohne daß jemand entdeckt hätte, was geschehen war.

      * * *

      Von Zeit zu Zeit warf Sigrun einen Blick auf ihren Fuhrmann, der neben ihr auf dem Schlitten saß. Es war Nacht und sehr finster, und sie konnte nur undeutlich den äußeren Umriß der Gestalt unterscheiden: den großen Schlapphut, die hinaufgezogene Schulter, die Stumpfnase und den mürrisch zusammengebissenen Mund.

      »Das ist gar kein Mensch, den ich da neben mir habe,« dachte sie. »Es ist der Tod. Ich erkenne den Stiel seiner Sense unter seinem Rock.«

      »Ja, so ist es,« sagte sie zu sich selbst. »Als er zuerst kam, erkannte ich ihn nicht, aber jetzt erkenne ich ihn. Und wer sollte es auch anders sein? Ich habe mich in seine Macht gegeben. Er ist gekommen, mich zu holen und mich in sein Reich zu führen.«

      Sie fuhren über große, öde, mit weißem Schnee bedeckte Hochebenen. Einzelne verkümmerte Bäume und Büsche machten die Armut der Gegend noch auffallender.

      »Das ist das Reich des Todes,« dachte Sigrun.

      Sie, die erst kürzlich noch so eifrig, so streitbar so befehlshaberisch gewesen war, fühlte nun eine stille Ruhe über sich kommen. Aus war es mit allem beschwerlichen Wollen, alle Wünsche und Hoffnungen waren dahin.

      Vielleicht ist es gefährlich für einen Lebenden, den Tod als Bundesgenossen anzunehmen. Er nimmt einen vielleicht im Ernst mit.

      Sie glaubte zu fühlen, daß wirklich eine Verwandlung mit ihr vorging. Alle Bande, die sie mit ihrem früheren Leben verknüpften, lösten sich, eines nach dem anderen.

      Die Liebe zu ihrem Manne, die Sorgen und Plagen ihres Ehestandes, die vordem alle ihre Gedanken in Anspruch genommen hatten, das alles versank und verschwand. Nur ein großer leerer Raum blieb davon zurück, aber kein Vermissen, keine Bitterkeit.

      »Ja, so fühlen die Toten,« dachte sie. »In dieser Weise werden sie vom Irdischen freigemacht. Ihre Liebe und ihr Leid verlassen sie.«

      Es gab kleine, dumme Sachen, die sie als Kind gesagt hatte und wofür sie seither immer ausgelacht worden war, und kleine Kränkungen, die sie lang gequält hatten, und kleine Demütigungen, die sie niemals vergessen hatte; aber das alles war nun mit einem Male verschwunden, Von nun an konnte sie daran denken, als an etwas, das sie gar nichts anging.

      Wenn sie an ihre Eltern und an die Stütze dachte, die sie stets an ihnen gehabt hatte, so fand sie, daß sie nun keiner Hilfe mehr von ihnen bedurfte. Alles um sie war neu, sie befand sich in einer anderen Welt.

      »Hier können sie mich nicht mehr erreichen,« dachte sie. »Bisher sind sie mir beigestanden, so weit es in ihrer Macht stand. Jetzt bin ich von ihnen getrennt. Ich fahre hinein in das Reich des Todes.«

      Sie war wie eine Ranke, die sich mit vielen Fäserchen an einem Gitter festgehalten hatte. Nun riß ein Fäserchen ums andere, und bald lag die Ranke an der Erde.

      »Geradeso muß es sein, wenn man stirbt,« dachte Sigrun. »Es ist weder schwer noch hart; es ist nur ein großes Ausruhen.«

      Allmählich graute der Tag. Der Mann, der mit ihr auf dem Schlitten saß, wurde wieder zu einem gewöhnlichen Landstreicher mit einem sauertöpfischen, unfreundlichen Gesicht. Die Gegend wurde zu einer wohl steinigen, mageren, armseligen, aber doch ganz irdischen Landschaft, und Sigrun selbst erwachte wieder zum Leben mit seinen strengen Anforderungen an Mut und Kraft ...

      Das Pferd hatte die ganze Nacht über nicht ausruhen dürfen, und die Fahrt ging sehr langsam von statten. Im Schuppen einer Kätnerhütte mußten sie es mehrere Stunden stehen lassen und ihm Futter und Ruhe gönnen, damit es wieder zu Kräften kam. Endlich aber lag doch ein Dorf vor ihnen, in dem sich ein Wirtshaus befand.

      Da sie sich nun also dem Ende ihrer Fahrt näherten, fing der Scherenschleifer an mit Sigrun zu reden.

      »Ein Scherenschleifer wie ich, der Land auf und ab zieht, sieht und erfährt allerhand Sonderbares,« sagte er. »Aber was ich heute nacht mit erlebt habe, ist doch das größte Abenteuer, das mir je vorgekommen ist.«

      »So, meinen Sie das?« Sigrun drehte den Kopf nach dem kleinen dunkelhäutigen Mann um und lächelte ihn freundlich an.

      »Ich schwöre jeden Eid, daß ich etwas so Sonderbares noch niemals erlebt habe, und ich begreife selbst nicht, wie ich so weichherzig habe sein können, Ihnen zu helfen. Ich weiß nicht, was mir da angekommen ist.«

      »Nein, ich weiß auch nicht, wie das zugegangen ist,« sagte Sigrun. »Aber eines ist gewiß, daß Sie Ihre Freundlichkeit niemals bereuen sollen.«

      »Ach, das kann man so genau nicht wissen,« meinte der Mann. »Jetzt aber kann ich Sie jedenfalls nicht fortgehen lassen, ohne vorher zu fragen, was Sie tun und wohin Sie sich wenden wollen.«

      »Ich will nach Amerika,« sagte Sigrun.

      »Aber das kostet viel Geld, so eine Reise nach Amerika,« meinte der Fuhrmann.

      »Sie können sich wohl denken, daß ich mich nicht ohne Geld auf eine solche Fahrt begebe,« erwiderte sie.

      Nachdem der Scherenschleifer diese Antwort erhalten hatte, zog er die Zügel an, trat zu dem Pferd und fing an das Pferdegeschirr zu betasten und zu untersuchen.

      »Ich bin eigentlich ganz frei und ledig,« sagte er nach einer Weile. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir an diesem Wirtshaus vorbeiführen, und wenn ich Sie noch ein paar Meilen weiter brächte. Vielleicht sind hier doch Leute, die Sie kennen.«

      Gerade der Gedanke, sie könnte in

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