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sie. »Als ich Sven Elversson bat, mir zu helfen, hatte ich vergessen, daß die Tote seine Frau gewesen ist.«

      Sie weinte still in ihr Taschentuch hinein. Die eigentümliche Todesstimmung senkte sich von neuem über sie.

      Aber nach wenigen Sekunden saß Sven Elversson wieder in derselben Stellung am Tische wie vorher.

      »Nun müssen Sie mir alles erzählen,« sagte er.

      Sie tat, wie er gebot, und erzählte ihm alles, was geschehen war, von dem Augenblick an, wo die Verstorbene ins Brauhaus getreten war, bis zu dem jetzigen Augenblick, wo Sigrun im Landstreicherhaus auf Hånger saß.

      Mit ganzer Seele hörte er ihr zu und war voll Kummer über die verzweiflungsvolle Tat, die sie getan, und über alles Elend, das sie über sich gebracht hatte. Er sah besser ein als sie selbst, daß sie sich, so wie sie nun einmal war, alle Pfade des Lebens verschlossen, und sich, sofern sie in dieser Welt bleiben wollte, selbst zu beständiger Unruhe, beständiger Angst, beständiger Reue, beständiger Selbstverachtung verdammt hatte.

      Aber mitten in seinem Kummer und in seinem tiefen Mitleid konnte er doch eines nicht ändern: etwas in ihm jubelte und wiederholte immer wieder:

      »Sie lebt noch, und sie ist zu dir gekommen. Sie sitzt neben dir und spricht. Was hat alles andere zu bedeuten neben dem einen, daß sie noch lebt?«

      Sigrun hatte schon lange zu reden aufgehört, Sven Elversson saß schweigend da und sann nach, was er sagen und was er tun sollte. Und während seines Schweigens fühlte er eins deutlich: ein Mann wie er konnte nichts anderes tun, als sie wieder ihrem Manne zuschicken. »Dieser Mann läßt sich nicht zu einer tadelnswerten Handlung hinreißen,« dachte er.

      »Das alles ist ganz unnötig gewesen,« sagte Sigrun zu sich selbst. »Es hilft gar nichts; der Tod gibt mich nicht frei.«

      Mutig schaute sie ihrem Schicksal in die Augen. Und sie versuchte nicht, dadurch auf Sven Elversson einzuwirken, indem sie ihm mitteilte, welchen Entschluß sie gefaßt hatte.

      »Ja, das war sehr viel,« sagte er und wunderte sich selbst darüber, daß er jetzt zu Sigrun in demselben Ton sprach, wie zu seinen anderen Schützlingen. »Aber eins ist mir sofort klar geworden, Sie dürfen nicht in der Welt umherziehen und Ansteckung verbreiten. Vorerst müssen Sie hier auf Hånger bleiben.«

      Sie sah ihn an. Das war so einfach. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Es war ein Aufschub von einigen Tagen. Der Todesgedanke wich zurück.

      »Ich habe nur meinen Vater und meine Mutter bei mir,« sagte er, »und sie fürchten sich wohl nicht sehr vor der Ansteckung. Allerdings, wir haben auch einige fremde Kinder bei uns. Die muß ich hinunter ins Dorf bringen. Und die Herberge hier müssen wir für einige Zeit schließen. Sie müssen ins Wohnhaus übersiedeln und eines unserer Gastzimmer bewohnen.«

      »Und dann?« fragte sie mit beinahe rauhem Ton.

      Er neigte den Kopf und versuchte nachzudenken, denn da er sie liebte, las er in ihren Gedanken und wußte, daß für sie von seiner Antwort Leben und Tod abhing.

      Er hatte nicht die Kraft, etwas anderes zu sagen, als:

      »Das steht in Gottes Hand.«

      »Ich kann sie nicht zur Verzweiflung treiben,« dachte er. »Aber ihr eigener Sinn kann sich ändern. – Die Liebe zu ihrem Mann kann neu erwachen. Es wird noch alles recht werden, dessen bin ich sicher.«

      Sigrun hatte nur einen Aufschub erhalten, das verstand sie wohl, aber jedenfalls atmete sie erleichtert auf.

      »Sehen Sie, ich denke so,« sagte er. »Es ist nicht recht, zu lügen und etwas zu verhehlen. Das ist es gewiß nicht. Aber es geht auch nicht an, einen Menschen zu Tode zu quälen. Nein, das geht auch nicht an. Indes, das Herz kann sich ändern, oder besser gesagt, es kann wieder werden wie vorher. Dann geht das, was jetzt schwer ist, von selbst. Wollen Sie mir das glauben?«

      Sie schüttelte heftig den Kopf, sagte aber kein Wort.

      »Ach doch, wir nehmen es einmal an, wir nehmen es einmal an,« fuhr er fort. »Aber nun müssen Sie mir erlauben, dies alles meinem Vater und meiner Mutter mitzuteilen. Sie gehören nicht zu denen, die mehr reden, als sie sollten. Und nun wollen wir das alles nicht zu traurig und zu schwer nehmen. Wir wollen denken, es wird alles wieder zurecht kommen.«

      Ihr kam es vor, als ob er nur Scherz mit ihr treibe. Seine Art hätte sie an einem anderen Tage gereizt, jetzt aber war sie unbeschreiblich beruhigend und wohltuend. Ihr war, als habe dieser Mann alle ihre Kümmernisse und ihr Unglück auf sich genommen und trage sie nun an ihrer Statt.

      Da war Sigruns Mutter, die alte Pröpstin von Stenbroträsk. Anfangs Mai 1916 machte sie einen Besuch bei Verwandten in Bohuslän, und weil sie nun doch einmal in der Nähe war, wollte sie auch ihren Schwiegersohn in Algeröd aufsuchen und sehen, wie es ihm gehe.

      Als sie in dem kleinen, ärmlichen Pfarrhaus ankam, fand es sich, daß der Pfarrer seine Mutter zu sich genommen hatte, damit sie ihm den Haushalt führe. Die Mutter war ein einfaches, gerades Menschenkind, die Witwe eines armen Lotsen, die gehungert und entbehrt hatte, damit ihr Sohn Pfarrer werden konnte. Die Pröpstin sah, wie stolz und glücklich sie war, bei ihrem Sohne wohnen und seinem Hause vorstehen zu dürfen, und das begriff sie sehr wohl. Es erweckte durchaus keine unangenehmen Gefühle in ihr.

      Aber die Einkünfte dieser armen Pfarrei waren eben über alle Maßen gering, und so war die alte Frau ebenfalls auf den Gedanken gekommen, es mit Kostgängern zu versuchen. Sie hatte zwei junge Mädchen mit schwacher Brust ins Haus genommen, deren Gesundheit sich in der frischen Bergluft von Algeröd bessern sollte.

      Diese beiden hatten sich im Anfang vor dem düstern, finstern Hausherrn, der um seine Frau trauerte, etwas gefürchtet; jedoch zu der Zeit, wo die alte Pröpstin nach Algeröd kam, war ihre Furcht längst überwunden. Und das war eine große Überraschung für Sigruns Mutter. Statt in ein Haus voll Betrübnis und Trauer zu kommen, kam sie in eines voll Lachen und Scherz und Lustigkeit.

      Das wurde ein langer Nachmittag für sie. Fast hätte sie die Geduld verloren, ehe er zu Ende war. Auf Schritt und Tritt stand ihr die abgeschiedene Tochter vor Augen, und sie konnte sich nicht genug über deren Mann wundern, wie er es mit den zwei ausgelassenen Mädchen aushielt, die sich auf eine so deutliche Weise um ihn bemühten; wenn er noch gewesen wäre wie früher, hätte er sicher großes Ärgernis daran genommen.

      Aber er war nicht mehr wie früher, das merkte sie an allen Ecken und Enden. Er war ein ganz anderer Mann geworden.

      Im Sprechen und Lachen hatte seine Stimme einen lauten, schrillen Ton angenommen, und mit Vorliebe suchte er vor seiner Schwiegermutter seine eigene Vortrefflichkeit herauszustreichen.

      Früher hatte er immer Ernst und Würde in seinem Auftreten gewahrt. Man hatte nicht zwei Minuten in seiner Gesellschaft sein können, ohne zu merken, daß er Pfarrer war; jetzt war die gute Haltung weg. Früher hatte er es den Leuten selbst überlassen, zu merken, daß er ein hervorragender und begabter Mann war: jetzt hielt er es für nötig, selbst davon zu reden.

      Er erzählte, wie vortrefflich er schon in der Schule gewesen sei, wie rasch er sein Examen gemacht und was für Wunderwerke er in seiner Gemeinde gewirkt habe; er erzählte und erzählte und konnte nicht zum Schluß kommen.

      Und die beiden Mädchen schlugen die Hände zusammen und zeigten deutlich, wie sehr sie ihn bewunderten.

      Es war gerade, als lege er es darauf an, der Schwiegermutter zum Bewußtsein zu bringen, wie sie ihm zu Füßen lagen, und daß er sie behandeln konnte wie er wollte. Er war wie jemand, dem eine große Sache mißlungen ist, und der nun auf alle Art und Weise sucht, sich die frühere Achtung wieder zu verschaffen.

      Er war keineswegs artig und entgegenkommend gegen die beiden jungen Mädchen, und es klang Verachtung aus jedem Wort, das er an sie richtete. Aber er wollte nicht fern von ihnen sein. Er sagte zwar, er habe zu arbeiten, ging aber nicht weg aus der Gesellschaft. Zuerst war die Pröpstin betrübt darüber, weil es aussah,

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