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sich mit gespielter Belusti­gung ver­nehmen. „W-w-w-enn ich etwas größer bin“, ahmte er meine Stimme nach. Alle nannten ihn nur Angeber, denn er war auch einer.

      „Warum eigentlich nicht?“, fragte Babette laut und selbstbe­wusst in die lachende Runde, die plötzlich ver­stummte. Babette war sehr nett. Außerdem war sie nicht nur das hübscheste, sondern auch das ge­scheite­ste Mädchen in unserer Klasse. Alle hatten Respekt vor ihr.

      „Kann ich mir nicht vorstellen“, sagte die kleine Minni aus der letzten Bankreihe.

      „Ich wüsste aber, wer Frl. Lampe heiraten könnte“, ließ Eule sich vernehmen.

      „Wer denn?“, wollten alle wissen.

      „Vielleicht Herr Presszeh, Picknicks Vater!“

      „Das glaube ich nicht“, sagte Angeber, schob die Unterlippe vor und schüttelte entschieden seinen Kopf.

      „Warum denn nicht?“, bohrte Simone.

      Aber Angeber antwortete nicht. Er zeigte ihr nur ei­nen Vogel und schüttelte weiter seinen Kopf.

      Alle Kinder waren der Meinung, mein Vater und Frl. Lampe wären ein bildschönes Paar. Ir­gendwann einmal, so hofften wir, würde mein Vater unsere junge Lehrerin vielleicht heira­ten. Dann wieder waren wir uns doch nicht mehr so sicher, dass sich die­ser Wunsch je erfüllen würde, denn wir gewannen im Laufe der nächsten Tage mehr und mehr den Ein­druck, mein Vater sei schüchternste Mann von Plunder­land. Außer­dem sprach er viel zu selten mit Frl. Lampe.

      „Sie müssten öfter miteinander reden“, sagte Babette eines Morgens, als die Klingel gerade den Un­terrichts­beginn ankün­digte.

      „Ich weiß, w-w-ie man es anstellen muss, damit mein Vater Frl. Lampe heute einmal anspricht“, sagte ich in die Klasse hin­ein. Alle verstummten.

      „Weißt du nicht“, sagte Angeber, der zwei Plätze rechts ne­ben mir saß.

      „Wie sollte man es denn anstellen?“, erkundigte Ba­bette sich. Sie schien sehr gespannt auf die Antwort zu sein.

      „Heute in der Pause spricht mein Vater mit Frl. Lampe!“, pro­phezeite ich geheimnisvoll.

      „Das will ich sehen!“, höhnte Angeber.

      „W-w-ollen wir wetten?“, fragte ich.

      „Nein, wir w-w-w-etten nicht“, ahmte Angeber mich wieder nach.

      Die Klassentür öffnete sich, und Frl. Lampe kam herein. Sie legte ihre kastanienbraune Ledertasche auf das Lehrerpult und sagte gutgelaunt:

      „Guten Morgen, Kinder!“

      „Guuuuuuuten Mooooooorgen!“, ertönte es fröh­lich aus der Klasse zurück.

      Aufmerksam betrachteten alle Kinder unsere junge Lehrerin in ihrem leichten cremeweißen Sommerkleid mit ro­ten Punkten. Um die Hüfte trug sie einen schwarzen Gürtel mit einer silbernen Schnalle, die eine Schlange darstellte.

      „W-w-ie eine Königin“, flüsterte ich Silke, die ne­ben mir saß, ins Ohr. Sie streckte mir die Zunge heraus und blickte auf Frl. Lampe, die ihre Tasche öffnete und das Lesebuch herauszog. Ich hatte das Gefühl, alle aus unserer Klasse beobach­teten mich, doch dann wurden sie abgelenkt durch eine spannende Geschichte, die Frl. Lampe uns vorlas: sie handelte von einem Jungen, der beim Ziegenhü­ten ein Lagerfeuer machte und ei­nige Steinbrocken um die Feuerstelle legte, damit die Flammen sich nicht ausbreiten konnten; auf einmal bemerkte der Junge, wie die Steine zu glühen began­nen. Als er bald darauf den Leuten aus seinem Dorf hiervon er­zählte, wollte ihm zuerst niemand glauben. Aber bald erkannte man, dass der Junge die Wahrheit ge­sagt hatte, und man nannte die Steine Kohlen...

      Während Frl. Lampe vorlas, behielt ich ihre Tasche fest im Auge.

      Nach zwei Schulstunden läutete es zur Pause. Alle Kinder eilten mit ihren Butterbroten und Kakaofla­schen auf den son­nenwarmen Schulhof hinaus.

      Als ich wenig später meinen Vater unter der Pausen­halle er­blickte, lief ich sogleich zu ihm und rief laut und für alle Jungen und Mädchen der Schule hörbar:

      „Herr Presszeh! Frl. Lampe hat ihr Frühstücksbrot heute ver­gessen!“

      „Na sowas“, sagte mein Vater trocken. Offensicht­lich fand er diese Tatsache nicht sonderlich beun­ruhi­gend.

      Ein rothaariges Mädchen namens Ann-Christin kam über den Hof gelaufen.

      „Herr Presszeh!“

      „Was gibts denn?“

      „Melissa hängt mit ihrer Jacke im Stacheldraht!“

      „Noch ein Unglück“, sagte mein Vater gelassen. Nichts schien ihn aus der Ruhe bringen zu können.

      Zusammen mit den Kindern, die uns neugierig um­ringten, überquerten wir den geteerten Hof, um zum Zaun zu gelangen. Es war ziemlich leicht, Me­lissa vom Stacheldraht zu befreien.

      „Au“, ließ mein Vater sich vernehmen.

      „Was ist denn?“, fragte ich.

      „Jetzt habe ich mir den Finger am Zaun aufgeritzt.“ Ein Blutstropfen erschien an seinem rechten Zeigefin­ger.

      „Ablecken!“, rief ich.

      Gehorsam steckte mein Vater den verletzten Fin­ger in den Mund und lutschte daran.

      „Schmeckts?“

      „Hab schon Süßeres geschleckt“, sagte er.

      „Der Finger muss verbunden werden“, sagte ich.

      „So schlimm ist es nicht“, sagte mein Vater, ohne an die Ge­fahren zu denken, von denen er mir so oft ge­predigt hatte.

      „Ich sage schnell Frl. Lampe Bescheid!“, rief ich.

      „Das wird nicht nötig s-“

      Aber schon sssssssauste ich los zum anderen Ende des Schul­hofes, wo Frl. Lampe vor der Holzbank ei­nem Mädchen eine rosafarbene Schleife ins Haar band.

      „Frl. Lampe!“, brachte ich atemlos hervor.

      „Was ist denn, Nick?“

      „Mein Vater braucht einen Verband!“

      „Ist es so schlimm mit ihm?“

      „Am Stacheldraht hat er sich aufgeschlitzt!“

      „Am Stacheldraht?“

      „Ja. B-b-is aufn Knochen!“

      Frl. Lampe ging eilig ins Schulgebäude und kam mit Ver­bandszeug und einer blauen Flasche zurück. Drau­ßen, auf der Bank vor unserem Klassenzimmer, saß mein Vater inmitten ei­ner Traube von Kindern, die ge­spannt verfolgten, was ich hier angestellt hatte.

      „Tut es sehr weh?“, erkundigte Frl. Lampe sich mit­fühlend bei meinem schüchternen Vater.

      „Sehr“, sagte mein Vater und biss die Lippen auf­ein­ander.

      Nach und nach kamen alle Kinder der Schule näher und um­ringten unsere beiden jungen Lehrer.

      „Dann muss ich Ihnen leider noch einmal weh tun“, sagte Frl. Lampe und schraubte den Deckel der blauen Flasche ab.

      „Was ist das?“, fragte Keule interessiert.

      „Das ist Jod“, erklärte Frl. Lampe. „Es wird über die offene Wunde gegossen, damit sie sich nicht ent­zün­det.“

      „Jod kenne ich“, sagte Minni kühl. „Es brennt wie Feuer!“

      Mein Vater lächelte gequält. „Besser Jod als tot“, sagte er halblaut.

      „Sie werden es überleben“, versprach Frl. Lampe und goss ein paar Tropfen in die Wunde.

      Ich bemerkte zufrieden, dass mein Vater keine Miene verzog, als Frl. Lampe die Wunde abtupfte

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