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fühlte sich an wie eine grazile Blase aus Nichts in der eiskalte, spitze Hagelkörner wie Flummis umhersprangen.

       Denken konnte schmerzen. Eine völlig neue Erfahrung.

       In der Pappelallee rettete mich eine Oma durch einen Zuruf vor einem Zusammenstoß mit einem Fahrrad. Ich war im Kopf weit weg gewesen.

       Langsamer gehend überdachte ich mögliche Konsequenzen.

       Die Polizei?

       Nein, nach dem erschütterndsten, verwirrendsten, niederträchtigsten Erlebnis meiner Jugend, würde ich nie wieder einem Polizisten trauen.

       Die Attribute passen alle nicht.

       Es war das Beschissenste was ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren erleben kann.

       Ein halbes Jahr, nachdem mir alle Welt erklärt hatte, dass ich mich wohl getäuscht haben musste, verpisste ich mich aus dem Elternhaus. Eigentlich war es nur noch mein Vaterhaus.

       Die Liska von damals wollte sich nur noch verstecken. Vor den Geistern der Vergangenheit.

       Ich war inzwischen sechzehn Jahre alt. Mein Abi machte ich in Berlin. Das Studium dito.

       Das größte Problem meiner selbst war, Vertrauen zu fassen.

       Doktor Richard konnte ich vertrauen, weil er mich niemals anfasste. Nicht einmal hatte er mir die Hand gereicht. Berührungslose Begrüßungen. Sein Interesse an mir bezog sich auf mein Wissen und Können. Obwohl, zeitweise hatte ich das Gefühl, dass seine Blicke mich verfolgen würden, er mir ein, wie er selbst es nennen würde, wertigeres Interesse entgegenbrachte. Richtig berührt aber hatte er mich nie.

       Meiner Gynäkologin konnte ich vertrauen, weil sie mich anfasste. Nur anfasste.

       Wollte jemand beides, meine Seele und meinen Körper, machte ich sofort alle Türen zu und das Licht aus. Ich versteckte mich in mir selbst.

       Meine junge Seele war schon einmal getötet worden.

       Von meiner Lehrerin. Der Tochter des Landtagsabgeordneten, dem Kunstmäzen und Sponsor der Turnhalle unserer kleinen Gemeinde. Und meine Lehrerin war auch die Frau eines Polizisten, dem Kriminalbeamten, der mich im Wald fand.

       Finden sollte?

       Derjenige, der seinen ersten Bericht plötzlich nicht mehr wiederfand.

       Und dann wiederrief!

       Der gedeckt wurde von allen Seiten.

       Die Polizei hatte bei mir verschissen.

       Nicht einmal anonym sollten die einen Tipp von mir erhalten.

       Metin durfte meine Seele und meinen Körper haben, denn er interessierte sich nur in ganz kleinen Dosierungen für mich. Er wollte nicht immer gleich alles. Er wollte mich nicht besitzen.

       Er schnitt sich immer ein Scheibchen Liska ab, genoss es oder auch nicht, um es danach zu hinterfragen. Er ließ mir Zeit, gab mir Chancen und seine Seele preis.

       Metin, der arme Kerl. Seit ungefähr vier Jahren hatten wir nach einer zwanzigmonatigen On-Off Beziehung immer mal wieder Sex. Einverstanden, das letzte Mal war aufgrund des Alkoholpegels nicht die Krönung. Doch sonst war er ein einfühlsamer Freund.

       Gewesen.

       Ich wollte allein sein beim Weinen, Trauern, beim Erinnern.

       An der Straßenbahnhaltestelle gegenüber von Konnopke’s Currywurst machte ich eine Sinnierpause, die natürlich durch einen dieser kulinarischen Berlingenüsse unterfüttert wurde.

       Mir war eingefallen wie ich mich von Metin verabschieden könnte.

       Am Orankesee angekommen holte ich aus dem Cafe Schokomund ein Zwiebeleis. Das hatte er am liebsten gegessen. Es waren nur noch hundert Meter bis zum Wasser, als der Regen anfing.

       Da saß ich dann also an dem kleinen Strand gegenüber vom Bootsanleger und schleckte zum ersten Mal in meinem Leben ein Zwiebeleis. Dass ich dieses Eis kosten solle, war einer der Wünsche die er mir gegenüber einmal geäußert hatte. Alle seine Wünsche hatte er immer nur einmal kund getan. Das fiel mir jetzt erst auf. Als ich fertig war, griff ich in die Tasche und bastelte den Schlüsselring mit den beiden kleinen Folklorepuppen ab. Metin hatte mir die bunten Püppchen in meine erste Steuererklärung gelegt. Metin war ein wirklich guter Mensch.

       Der Regen tropfte durch das Blätterdach der Bäume auf meine Hände.

       Orankeseestrand. Es war ein trauriger Strand.

       Die Püppchen blieben am Strand. Versteckt in einem Wurzelvorsprung der Weide, unter der wir so oft gesessen hatten.

       Ich fuhr nach Hause.

       In der fünften Etage nahm ich hinter der Tür ein Geräusch wahr. Nachbar Beyer, mein dreiundneunzigjähriger Freund. Netter Kerl. Ich wartete, bis die drei oder vier Ketten die die Tür sicherten, entfernt waren.

       Dann blickte ich direkt in seine wachen Augen. Er war genauso groß, respektive klein wie ich. Sorgen in seinem Blick, ließen mich augenblicklich noch wacher werden.

       Er zog mich in seinen Flur.

       Ich solle mir keine Sorgen machen, es wurde bei mir eingebrochen. Er habe ein Foto von dem Mann, der heute Morgen, gleich nachdem ich zur Arbeit gefahren bin, in meine Wohnung eingestiegen sei.

       Das Bild habe er durch seinen Türspion geschossen. Dann schon mal im Bildbearbeitungsprogramm seines Rechners überarbeitet und an mich gemailt.

       Solche Nachbarn braucht die Welt. Dreiundneunzig und topfit. Als begeisterter Verfechter des Internets schiss er auf Datenschutz – seine Worte, nicht meine. Opa Beyer hatte bei Facebook wohl mehr als fünfeinhalbtausend Freunde.

       Ich nicht einen. Naja, es gab noch Heidi.

       Metin gab es nicht mehr.

       Ich fand Facebook nicht meinem Graue-Maus-Dasein in dieser Gesellschaft zuträglich. Ich war ja nicht mal bei Stayfriends oder StudiVZ zu finden. Ich lebte lieber als Igel.

       Er klappte den Bildschirm seines Laptops in der Küche auf.

       Diese Ohren erkannte ich sofort. Auch das markante Gesicht.

       Dem Kerl hatte ich vor ein paar Stunden gezeigt, was kleine, böse Mädchen draufhaben.

       Wenn der meine Wohnung umgekrempelt hatte, dann würde ich mir seinen Hodensack an meinen Stubendeckenventilator hängen. Mit einem fetten Grinsen nahm ich wahr, dass meine Blümchensaat in seinem Gesicht aufgegangen war. Die Veilchen würden ihn noch lange Zeit schmücken.

       Opa Beyer hatte die Polizei nicht gerufen.

       In meiner Wohnung herrschte bei Weitem nicht das erwartete Chaos. Alle Türen, auch die der Schränke, waren offen. Auch unter dem Bett hatte er was gesucht, aber nur eine Dreimillimeterschicht Staub entdeckt.

       In der Miniküche lag sie dann.

       Er hatte sie brutal zerstückelt.

       Meine Pinnwand. Die größere.

       Die Pinnwand die eben nicht hinter meine Bürotür gepasst hätte.

       Komplett auseinandergerissen war das gute Stück.

       Dieses einen-Meter-neunzig-Arschloch schuldete mir sechs Euro neunzig.

       Und ein neues Türschloss.

       Die Pinnwand aus dem Büro. Metins Pinnwand!

       Innerhalb von fünfzig Minuten, was gegen sechszehn Uhr in Berlin einen unglaubwürdigen Rekord darstellte, war ich von der U-Bahn in der Dimitroff (Ich bin zwar ein Wessi, hatte mich aber mit der Geschichte des Mannes beschäftigt und fand die Umbenennung entwürdigend), also von der heutigen U-Bahnstation Eberswalder Straße bis zu meinem Büro geflogen.

       Abgeschlossen, keine Einbruchsspuren.

       Ich wollte es sofort wissen. Tür auf.

       Diese blöde Korkwand zu zerpflücken dauerte genau zwei Minuten.

       Erwartet hatte ich Drogen oder einen Schlüssel für ein Schließfach. So wie in richtigen Krimis.

       Anders gesagt, in dem, was man uns als richtige Krimis verkaufen wollte.

      

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