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Es wurde nicht gesprochen. Herr Rohnke war mit der Stoppuhr zum Ziel gelaufen. Starten sollte Liebscher.

      Julia fror. Sie zog sich über ihre Trainingsjacke den Anorak.

      Sie sah in Liebschers Augen, für Sekunden nur. Zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, ihm nahe zu sein, ihn zu verstehen, ihn über das Äußerliche hinaus erkannt zu haben. Ihr schien es, als wäre Liebscher kleiner geworden, als spräche mit der Unruhe auch Angst aus seinen Augen. Angst? Wovor?

      Auch Julia fühlte Angst vor diesem Abschied von Herrn Rohnke. Sie fühlte sich schon jetzt allein gelassen. Sie hatte ein Gefühl in sich, wie damals, als sie das erste Mal ohne die Mutter über die belebte Kreuzung laufen musste.

      Julia fiel ihr Vergleich von neulich ein: Herr Rohnke als Ampel. Hatte sie sich nicht noch vor ein paar Tagen gewünscht, dass sie loslaufen könnte, wann sie es wollte? Jetzt würde sie es können. Und sie fürchtete sich davor.

      Julia sprang auf. Ellen stand neben ihr. Ihre sonst sorgfältig gekämmten Haare fielen ihr in die Stirn. Sie rieb die Hände aneinander und sagte: »Juli, Juli, sieh doch nur mal zu Werner ... Wie blass er aussieht. Er wird doch nicht krank werden ... !«

      Julia warf mit einem heftigen Kopfnicken ihre Haare nach hinten. Sie nahm einen Gummi aus der Anoraktasche und band sie sich zusammen. Ihre Niedergeschlagenheit hatte sich plötzlich in Wut umgewandelt.

      Sie lief so schnell sie nur konnte am Fleck, ging in die Grätsche, beugte den Rumpf, kreiste die Arme, sprang in die Luft. Ihr wurde heiß. Sie sah Herrn Rohnke klein am unteren Ende der Aschenbahn stehen.

      Gerda Munkschatz rief erschrocken: »Kinder, seht doch mal! Ich glaube, Julia hat's erwischt! Sie dreht wieder mal durch, das verrückte Huhn!«

      Julia hörte nicht, was Gerda Munkschatz sagte. Die anderen starrten sie überrascht an. Sie waren von Julia zwar allerhand gewohnt; aber jetzt ging von ihr eine aufreizende Aggressivität aus, die sich bald auf alle übertrug.

      Julia unterbrach für einen Moment ihre Übungen. Sie rief: »So einfach ist das also! Ich muss weg! Tut mir leid! Andere brauchen mich! Also Kopf hoch! Auf Wiedersehen!«

      Sie rannte weiter am Ort, dann kniete sie erschöpft nieder. Sie rief: »Na, von mir aus! Meinetwegen! Wenn es ihm so leichtfällt - dann fällt es mir noch viel leichter!«

      Julia wünschte sich, dass der Wind ihre Worte zu Herrn Rohnke trug.

      Aber der Wind wehte aus entgegengesetzter Richtung, und sie hörte Herrn Rohnke ungeduldig rufen: »Beeilung, Freunde! Warum geht denn das nicht weiter?!«

      Liebscher startete die nächsten Drei.

      Julia spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Es war Pit, Er kniete neben ihr.

      Julia wurde etwas ruhiger unter Pits Berührung. Es war das erste Mal, dass er sie vertraulich anfasste. Er musste in ihrer Schulter eine Bewegung gespürt haben, die er als Abwehr auffasste, denn seine Hand zuckte zurück.

      Aber er blieb neben ihr knien. Nach einer Weile sagte er: »Mir tut es auch leid, dass Herr Rohnke geht. Wirklich, Julia. Aber es hat keinen Sinn, sich darüber aufzuregen.«

      Von Pit ging Ruhe aus. Julia versuchte, sie in sich einströmen zu lassen. Sie hätte sich gewünscht, dass er seine Hand wieder auf ihre Schultern legen würde. Ihre Furcht war fast verschwunden. Da sagte Pit etwas, mehr zu sich selber als zu Julia: »Es ist nun einmal so. Da geht einer weg ... ganz plötzlich, und ein anderer kommt. Niemand fragt dich, ob du ihn auch haben willst ... «

      Julia stand auf. Diese Bitterkeit in Pits Worten. Er hatte doch eben nicht nur Herrn Rohnke gemeint.

      Aber Julia hatte jetzt keine Zeit, Pit zu erforschen. Ihre Gedanken kreisten nur um Rohnkes Weggehen. Sie spürte wieder Kälte und Wut, begann die Arme heftig zu kreisen und sagte bissig: »Du - als ob es dir leid tun würde, dass Herr Rohnke weggeht! Du bist doch nur froh darüber!«

      Pit sprang auf. Seine Augen wurden ganz schmal. Aber dann lief er weg, zu seinen Sachen auf die Terrasse.

      Julia schrie ihm hinterher: »So einen Blödsinn zu reden! Da kannst du Gift drauf nehmen, dass sie mich fragen müssen, ob ich die Neue haben will!«

      Liebscher drückte Pele die Starterpfeife in die Hand. Er kam eilig auf Julia zu, reichte ihr die Hand und sagte: »Hand drauf, Julia! Wir werden uns die Neue, diese Rosen, nicht aufdrängen lassen! Wir ... «

      Liebscher wollte noch etwas sagen, aber Pele drängte. »Mensch, Julia! Nun mach schon! Du musst laufen, hörst du!«

      Julia drückte Liebschers Hand kräftig. Sie sagte: »Hand drauf, Werner! Sie soll ihr blaues Wunder erleben!«

      Julia sollte mit Ellen und Monika Druskat laufen. Ellen klagte wieder über eine Menge Wehwehchen. Der Fuß und der Kopf taten ihr weh. Außerdem war es viel zu kalt zum Laufen. Die Aschenbahn war auch nicht vorschriftsmäßig. »Ob ich denn unbedingt mitrennen muss?«

      »Halt endlich deinen Sabbel!«, fauchte Monika Druskat. »Man kann sich nicht die Bohne konzentrieren!« Sie war die Größte in der Klasse, überragte sogar alle Jungen. Sie war dürr, stark, knochig und sehr ehrgeizig.

      Julia strampelte ihre Trainingshosen von den Beinen. Sie kniete sich auf die Aschenbahn. An ihren Fersen spürte sie die Startblöcke. Sie fühlte eine fast unerträgliche Spannung. Sie wollte unbedingt siegen. Eine großartige Zeit wollte sie laufen. Herr Rohnke sollte sehen, wen er da so leichtfertig verlassen wollte. Und nichts, keinen Ärger, wollte sie sich anmerken lassen.

      Der Pfiff ertönte. Julia warf sich nach vorn. Sie dachte nur: Lauf! Du musst laufen! In der Mitte der Strecke war Monika Druskat noch einen Meter vor ihr. Ellen war schon auf den ersten Metern ausgeschieden. Sie humpelte zu Liebscher.

      Julia sah Herrn Rohnke immer näher kommen. Sie sah nur noch ihn und die Uhr in seiner Hand.

      Lauf!, dachte sie. Du musst sehr schnell laufen!

      Als sie durchs Ziel war, ließ sie sich erschöpft auf den Rasen fallen. Sie wusste nicht, ob sie gewonnen hatte. Sie hörte Herrn Rohnke lachen und ein paar Jungen »Bravo!« rufen.

      Herr Rohnke kam, reichte ihr die Hand und zog sie hoch. »Dunnerlüttchen!«, sagte er anerkennend. »Julia, du bist ja ein Sprinttalent! Hattest ja Fahrt drauf, Mädchen! Und ich habe dich in all den Jahren nicht für unseren Sportverein entdeckt!«

      Die Jungen und Mädchen der 8b umringten Rohnke und Julia. Der Lehrer hielt die Stoppuhr hoch, sagte immer wieder die Zeit.

      Monika Druskat gab Julia die Hand. Sie sagte: »Glückwunsch«, und zog ihre Hand schnell zurück. Herr Rohnke war ihr Trainer im Sportverein. Sie fühlte sich als »Profi«. Und nun war sie von dieser »Amateurin« besiegt worden.

      Julia machte sich nicht viel aus Sport. So zum Spaß ja, aber nicht auf Leistung. Immer nur Rennen, das war ihr zu langweilig. Heute interessierte sie dies und morgen das.

      Sie war überrascht, als Herr Rohnke fragte: »Wie ist es, Julia, willst du zu uns kommen? Wir trainieren Dienstag und Donnerstag.«

      Der Lehrer schaute wieder auf die Stoppuhr, als könnte er die Zeit noch immer nicht fassen. Er setzte seine Mütze auf und ab, schien seine Mitteilung ganz vergessen zu haben.

      Voller Begeisterung, die Julia sonst immer angesteckt hatte, sagte er: »Julia, Mädchen, ich mache aus dir eine großartige Läuferin! Ich bin doch selber mal gelaufen. Auch kurze Strecken. Mit deinen Eltern würde ich sprechen. Also willst du?«

      Die anderen schauten etwas neidisch auf Julia. Sie war fein raus. Konnte nun trotz Rohnkes Weggang mit ihm zusammen trainieren.

      Julia zog langsam ihren Trainingsanzug an, den Ellen ihr gebracht hatte. Sie sagte laut und bestimmt: »Nein! Ich mache mir überhaupt nichts aus dem Herumrennen!«

      Es tat ihr weh und gleichzeitig gut, als sie auf Rohnkes Gesicht die Enttäuschung bemerkte.

      7.

      Zu

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