Скачать книгу

beigetragen, Spuren hinterlassen, die über den „Mythos ACT UP“ hinausreichen? Ja, ACT UP ist längst zu einem Mythos geworden, der manchmal recht weit von den damaligen Geschehnissen entfernt zu sein scheint. An manches erinnert man sich, anderes wird vergessen. Vieles wird verklärt, einiges missverstanden.

      Was hatte es auf sich mit ACT UP? Was bewegte uns Aktive, was waren unsere wichtigsten Aktionen und Ziele? Und ist ACT UP „Schnee von gestern“, oder hat diese Form des Aidsaktivismus der frühen 1990er-Jahre uns auch heute noch etwas zu sagen, wenn wir sie vom Nebel des Mythos befreien?

      Zur Klärung dieser Fragen möchte ich mit meinen Erinnerungen beitragen – und mit der Bewahrung unserer Geschichte(n) auch Bausteine für die weitere Arbeit an unserer Zukunft liefern.

      Ulrich Würdemann

      Hamburg, Frühjahr 2017

      Wut in New York – die Entstehung von ACT UP in den USA

      Am 5. Juni 1981 veröffentlichte die US-Gesundheitsbehörde CDC in ihrem Morbidity and Mortality Report (MMWR) eine kurze Notiz: Bei fünf jungen Männern in Los Angeles, alle homosexuell, waren ungewöhnliche Fälle von Pilzinfektionen und einer seltenen Lungenentzündung festgestellt worden (Gottlieb 1981). Schon kurz darauf berichtete die New York Times (Altmann 1981), ab Mai 1982 auch die Presse in Deutschland (siehe unten).

      Das neue Erkrankungsbild wurde von Mediziner_innen zunächst – frühes Zeichen anstehender Stigmatisierung? – als gay related immuno deficiency oder kurz GRID bezeichnet (auf Deutsch etwa „schwulenbezogene Immunschwäche“), gelegentlich auch als gay cancer („Schwulen-Krebs“). Ende Juli 1982 wurde dann erstmals die neutrale Bezeichnung acquired immuno deficiency syndrome (AIDS) vorgeschlagen, auf Deutsch etwa „erworbenes Immunschwäche-Syndrom“.

      1983 wurden in den USA bereits 3.064 Aidsfälle gemeldet. Bis Ende 1984 waren insgesamt bereits 3.665 Aidstote bekannt, schon 1986 war die Zahl auf 16.301 gestiegen, 1987 dann auf nahezu 28.000. Ein Jahr später wurden allein in New York 6.445 neue Aidsfälle gemeldet, 13.990 Menschen waren bis dahin in der Stadt an den Folgen von Aids gestorben.

      Bereits 1983 hatte der Autor Larry Kramer versucht, die Communities in New York wachzurütteln: Am 14. März machte der „New York Native“ mit Kramers Text „1,112 and counting“ auf, seiner längst legendär gewordenen Wutrede gegen Schweigen, Untätigkeit und Desinteresse. Darin heißt es unter anderem:

      „Wenn dieser Artikel nicht eure Wut weckt, euren Ärger, eure Rage, eure Aktion – dann haben Schwule auf dieser Erde keine Zukunft mehr. … Unsere weitere Existenz als schwule Männer in dieser Welt steht auf dem Spiel. Wenn wir nicht um unser Leben kämpfen, werden wir sterben.“

      (Kramer 1983; Übersetzung: U. W.)

      Larry Kramers Text war vermutlich der erste größere Essay über die damals noch neue Seuche, die gerade erst auf den Namen Aids getauft worden war. Die steigende Anzahl der neuen Aidsfälle und insbesondere der Toten sei erschreckend, hielt Kramer seinen Lesern entgegen. Was auch immer es sei, es breite sich schneller und schneller aus, und selbst führende Ärzte und Forscher wüssten nicht, was vor sich gehe (das auslösende Virus wurde erstmals im Mai 1983 noch unter anderem Namen beschrieben und erst drei Jahre später als HIV bezeichnet, kurz für human immunodeficiency virus, auf Deutsch etwa „menschliches Immunschwäche-Virus“).

      Kramer kritisierte nicht nur die Untätigkeit von Politik, Gesundheitsbehörden und Forschung, sondern griff vor allem auch die Schwulen und ihre Medien (wie den Advocate, eines der auflagenstärksten US-Homo-Magazine) wegen ihres Schweigens an:

      „Ich habe die Schnauze voll vom Advocate… Ich habe die Schnauze voll von Schwulen, die keine Wohltätigkeitsveranstaltungen für Schwule unterstützen … Ich habe die Schnauze voll von Klemmschwestern … Ich habe die Schnauze voll von all jenen in dieser Community, die mir sagen, ich solle aufhören, eine Panik auszulösen.“

      (Kramer 1983; Übersetzung: U. W.)

      Bereits damals – keine zwei Jahre, nachdem die ersten Fälle von Aids in Medien publiziert wurden – kam Kramer zu einer bemerkenswerten Schlussfolgerung, die sich heute wie ein frühes ACT-UP-Manifest liest, gut vier-Jahre vor der eigentlichen Gründung von ACT UP New York:

      „Ich will nicht sterben. Ich kann nur annehmen, dass auch ihr nicht sterben wollt. Können wir gemeinsam kämpfen?“

      (Kramer 1983; Übersetzung: U. W.)

      März 1987. Knapp sechs Jahre nach den ersten Berichten über Aids. In New York sind zahlreiche Menschen, die meisten von ihnen schwul, an Aids erkrankt, viele bereits an den Folgen gestorben. Im Lesbian and Gay Services Community Center findet am 10. März eine der regelmäßigen Versammlungen statt, bei denen jeweils ein_e eingeladene_r Redner_in spricht. An diesem Tag soll Larry Kramer über Aids sprechen.

      Und wieder erhebt der Aktivist wortgewaltig seine Stimme. Zunächst zitiert er aus seinem Text „1,112 and counting“ aus dem Jahr 1983 und verweist trocken darauf, dass die Zahl der Aidsfälle nun, vier Jahre später, allein in den USA 32.000 erreicht habe. Er kritisiert die Untätigkeit der Politik, beklagte das Fehlen jeglicher Medikamente und greift auch bestehende Organisationen wie Gay Men's Health Crisis (die er selbst im Januar 1982 in seiner Wohnung mit gegründet hatte) als „politisch impotent“ an. Kramers Rede gipfelt in der folgenden Frage an die Anwesenden:

      „Do we want to start a new organization devoted to political action?“

      (Zitiert nach Crimp 1990; auf Deutsch etwa „Wollen wir eine neue Organisation starten, die sich der politischen Aktion widmet?“, U. W.)

      Die Menge antwortet mit einem vielfachen „Ja“. Bereits zwei Tage später treffen sich etwa 300 Personen, überwiegend Schwule und Lesben. Sie alle eint Wut – und das Gefühl, dass die nationale wie auch lokale Politik in New York die Aidskrise weitgehend ignoriert und nichts unternimmt, dass Ärzte und medizinische Forschung wenig interessiert sind, dass Aidskranke und HIV-Positive irgendwo zwischen Desinteresse, Wegsehen, Ignoranz, Untätigkeit und offener Homophobie dahinsiechen. Sie gründen die AIDS Coalition to Unleash Power, kurz ACT UP (auf Deutsch etwa „Aids-Koalition, um Kraft zu entfesseln“; U. W.). Bereits wenige Tage später, am 24. März 1987, findet die erste Aktion statt – eine Demonstration in der Wall Street, mit der sie breiteren Zugang zu den noch experimentellen Substanzen gegen Aids fordern.

      Schon bald darauf beschreibt sich ACT UP New York als

      „a diverse, non-partisan group of individuals united in anger and committed to direct action to end the AIDS crisis. We meet with government and health officials; we research and distribute the latest medical information. We protest and demonstrate; we are not silent“.

      (Zitiert nach Strub 2014, S. 202; „eine vielfältige, überparteiliche Gruppe von Menschen, vereint in Wut und dem Ziel verpflichtet, in direkter Aktion die Aidskrise zu beenden. Wir treffen uns mit Regierungs- und Gesundheitsangestellten, wir recherchieren nach den neuesten medizinischen Informationen und verbreiten sie. Wir protestieren und demonstrieren, wir schweigen nicht“; U. W.)

      „We are not silent“, „wir schweigen nicht“ – diese Grundhaltung findet bald Ausdruck in einem Slogan, der schnell zum zentralen Motto von ACT UP wird:

      „Silence = Death“, auf Deutsch „Schweigen = Tod“.

      Mit dieser Selbstbeschreibung sowie dem zentralen Motto sind die wichtigsten Handlungsfelder von ACT UP bereits früh benannt: Die Aktionsgruppe will sich mit

       Aktionen zivilen Ungehorsams (civil disobedience), aber auch

       Gesprächen

Скачать книгу