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Ein Wesen, welches beide Gaben in sich trug, konnte Unruhe in das Volk der Enoderi bringen und die Zweifel, dass sie über beide Fähigkeiten verfügten, schienen berechtigt.

      Eolanee besaß fraglos überragende Fähigkeiten als Baumhüterin. Ihr Einfühlungsvermögen in die Lebensimpulse von Pflanzen übertraf sogar die Fähigkeiten von Neredia. Normalerweise brauchte es viele Jahre, eine Baumhüterin zu schulen, bis sie so weit war, eigenständig dem Kreislauf des Lebens und den Bäumen der Enoderi zu dienen, aber in Eolanees Fall war die Ausbildung sehr viel früher abgeschlossen.

      So stand Eolanee nun mit ihren siebzehn Jahren in Begleitung von Neredia und zwei anderen Baumhüterinnen, vor einer Gruppe Kegelbäume. Sie schien ganz in Gedanken versunken. Die vier Frauen hatten einen der Bäume aufsuchen wollen, aber Eolanee war unvermittelt stehen geblieben und Neredia gab den anderen ein Zeichen, zu warten. Auf den Rundgängen der umgebenden Kegelbäume standen Enoderi und sahen neugierig zu, was da geschah.

      Die Gegenwart einer einzelnen Baumhüterin war für die Menschen vollkommen normal. Immer wieder mussten die Kegelbäume auf die gefährlichen Borkenkäfer abgesucht werden.

      Diese Handgroßen Parasiten sonderten ein Hormon ab, welches die Wahrnehmung der Bäume trübte. Sie konnten die Insekten nicht aufspüren, bemerkten nicht einmal, wenn diese ihre Fressgänge und Bruthöhlen anlegten. Am schlimmsten war es im Frühjahr, wenn die Käfer ihre Eier legten, aus denen binnen weniger Tage die gefräßigen Maden schlüpften. Dann gab es kaum Ruhe für die Baumhüterinnen und die anderen Enoderi folgten ihren Anweisungen und entfernten die Schädlinge, wo immer sie gefunden wurden. Aber ein paar Käfer konnten sich immer verbergen und entkamen ihren besonderen Sinnen. So musste man während des ganzen Jahres nach den Parasiten suchen und der Besuch der Baumhüterinnen war in den Häusern des Volkes hoch willkommen. Es gab fast Hundert dieser besonderen Frauen und doch war ihre Zahl erschreckend gering, gemessen an der Zahl der Kegelbäume, die es zu behüten galt. Zudem war dies nicht die einzige Pflicht einer Ma´ededat. Ihre Sorge galt auch den normalen Bäumen und Pflanzen sowie den Feldern, auf denen Getreide gezogen wurde.

      Der Anblick von mehreren Hüterinnen, deren Sorge gleichzeitig demselben Objekt galt, war daher höchst ungewöhnlich und die vier Frauen, die nun auf einen der Kegelbäume zuschritten, erweckten sofort die Aufmerksamkeit der Bewohner der umliegenden Baumhäuser. Wenn mehrere Ma´ededat gemeinsam tätig wurden, bedeutete dies entweder große Gefahr für einen der Bäume oder die Prüfung einer künftigen Baumhüterin.

      Baumhüterinnen trugen keine besonderen Gewänder oder Kennzeichen, aber jeder Enoderi kannte sie und begegnete ihnen mit Respekt. An diesem Tag sahen die Bewohner Ayanteals sogar die Führerin der Hüterinnen, die Ma´ededat´than, in der Gruppe und bei ihr jene junge Frau, die sie in den letzten Jahren oft begleitet hatte. So war ihnen sofort bewusst, dass es sich hier um eine besondere Prüfung handeln musste.

      Eolanees Augen waren geschlossen und sie schien vollkommen entspannt. Die einzige Bewegung kam von dem leichten Wind, der zwischen den Bäumen entlang strich und das dünne Gewand gegen ihren vollendeten Körper presste. Neredia wusste, dass die entspannte Haltung der jungen Frau täuschte. Sie war hoch konzentriert und ihre Sinne tasteten nach einem der Kegelbäume. Neredia hatte dies nun schon einige Male erlebt und war immer wieder aufs Neue fasziniert. Andere Ma´ededat mussten die Pflanzen berühren, um ihre Gabe einsetzen zu können, doch Eolanee konnte darauf verzichten. Ihre Gabe musste sehr stark sein und dies war der Tag, an dem die junge Frau dies auch den anderen Hüterinnen beweisen sollte. Es war ihre Prüfung und die Meinung der begleitenden Frauen würde darüber entscheiden, ob es die Zeremonie geben würde, in der Eolanee endgültig in ihren Kreis aufgenommen werden konnte.

      „Er hat den Sommerfrost.“ Eolanees Stimme war leise und sanft, wie ihr Wesen.

      Neredia sah die anderen an. „Welcher von ihnen?“

      „Jener.“ Nun streckte die junge Frau einen Arm aus und deutete auf den betreffenden Baum. „Mehrere der Fangwurzeln sind befallen und der Sommerfrost breitet sich aus. Wir werden schneiden müssen.“

      Neben den Borkenkäfern wurden die Kegelbäume auch von einer heimtückischen Krankheit bedroht. Der Sommerfrost hatte eigentlich nichts mit der Eiseskälte des Winters gemeinsam, dennoch war der Vergleich durchaus zutreffend. Es war ein schädlicher Pilz, der von den Fangwurzeln der Bäume bei der Nahrungssuche aufgenommen wurde und sich in den Saftkanälen der Pflanze ausbreitete. Der Pilz ähnelte den Eiskristallen des Winters und hatte zu seinem Namen geführt. Ein befallenes Pflanzenteil musste vom Baum abgetrennt werden. Wenn es nicht gelang und sich der Pilz unbemerkt weiter ausbreitete, verstopfte er die Saftkanäle und der Baum war dem Tod geweiht.

      Eine der anderen Frauen räusperte sich. „Kannst du die befallenen Wurzeln nennen und zeigen, wie weit geschnitten werden muss?“

      Eolanee nickte und schritt zu dem befallenen Baum hinüber, gefolgt von den anderen. Um ihre Hüfte trug sie einen geflochtenen Gürtel und über der Schulter eine große Tasche, aus der sie nun mehrere Stoffstreifen zog. Ohne zu Zögern knotete sie die farbigen Tücher um eine Reihe der Fangwurzeln. Die Markierungen hatten verschiedene Farben und zeigten auf, bis zu welcher Länge die Wurzeln abgetrennt werden mussten.

      Auf dem unteren Rundgang des befallenen Baumes standen genug Männer und Frauen, welche die Bedeutung von Eolanees Handlung kannten. Als die junge Frau zurücktrat, holten sie Sägen und Siegelharz und stiegen in die oberen Baumebenen hinauf, um die erkrankten Wurzelteile abzutrennen.

      Eine der Hüterinnen trat näher an den Baum. „Ich will mir eine der abgetrennten Wurzeln ansehen.“

      Neredia nickte. Es war das gute Recht der Frau, immerhin wurden heute Eolanees Fähigkeiten geprüft. Sie konnte die Skepsis der anderen verstehen. Äußerlich war dem befallenen Baum nichts anzumerken und Eolanee hatte keine der Wurzeln berührt, wie man es normalerweise tun musste, um die Impulse des Baumes zu erfassen.

      Als die erste Fangwurzel zu Boden fiel, trat die skeptische Hüterin näher und zog ein Messer aus der Umhängetasche. Sie führte einen kräftigen Schnitt in die Wurzel und zog die Fasern auseinander. Schon nach wenigen Augenblicken richtete sie sich wieder auf und nickte Neredia zu. „Es ist, wie Eolanee gesagt hat.“

      „Gut“, meinte die andere. „Dann lasst uns in eines der Häuser gehen und sehen, wie es um ihre Fähigkeit bestellt ist, die Käfer aufzuspüren.“

      Sie traten an einen anderen Baum und die Wurzelschlingen trugen sie sanft nach oben. Die Familie, deren Haus sie aufsuchten, trat respektvoll zur Seite und sah interessiert zu, wie die vier Hüterinnen den Wohnraum betraten. Erneut blieb Eolanee reglos und entspannt stehen.

      Dieses Mal bestimmte sie die Richtung, indem sie sofort auf eine Wand deutete. „Dort. Ein Fressgang mit Bruthöhle. Zehn Maden und zwei Elternkäfer.“

      Als der Familienvater auf Eolanees Hinweis vortrat und die Wand berührte, öffnete sie sich folgsam und schon bald wurde der besagte Fressgang mit der Bruthöhle sichtbar. Die beiden großen Käfer reagierten sofort. Während sich der eine in den Gang zurückziehen wollte, sprang der andere dem Mann entgegen. Dieser reagierte blitzschnell. Er trug die dicken Lederhandschuhe, die einen gewissen Schutz vor den Kieferzangen der Schädlinge boten. Dennoch zwickte der eine den Mann auf schmerzhafte Weise, bevor er in dem Maschenkorb landete, den die Frau bereithielt. Der Käfer im Fressgang kam nicht weit, wurde gepackt und ebenfalls in den Korb gesteckt. Dann folgten die fetten Maden, die sich schon bald zu gefräßigen Käfern entwickelt hätten.

      „Die Hornlöwen werden sich über das zusätzliche Futter freuen“, meinte Neredia. Der Stolz auf Eolanees Leistung war unverkennbar.

      „In diesem Jahr gibt es viele Käfer.“ Die junge Frau lächelte ihre Ziehmutter an. „Bergos meint, die Hornlöwen werden schon zu fett von dem reichlichen Futter.“

      „Er sollte seinen Hornlöwen öfter satteln und ausreiten, dann wird das Tier auch nicht so dick.“ Neredia lachte auf. „Offen gesagt, Eolanee, meine Liebe, Bergos hat selbst ein wenig zugelegt. Ihm würde die Bewegung ebenfalls nicht schaden.“

      Die anderen stimmten in das fröhliche Lachen, in dem nichts Boshaftes lag, ein.

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